Der Aufschrei nach der Silvesternacht 2015/16 war laut und verständlich. Niemand konnte mehr sagen, es sei ja nicht so schlimm. Es war schlimm. Es ist schrecklich! Die Stimmen wurden enttäuscht, beleidigt und aggressiv: ‚Zuerst haben wir sie willkommen geheissen und jetzt belästigen und vergewaltigen sie unsere Frauen!‘ Die Rufe nach Abschiebung und Schliessung der Grenzen wurden daher auch vehementer und kaum jemand hat noch gute Argumente, die man dagegen halten könnte. Unsere Frauen waren auf einmal in Gefahr und damit unsere Kultur der Gleichberechtigung. Es muss etwas geschehen.
Die Frage ist nur: Was? Es bildeten sich Bürgerwehren. Viele unserer Männer ergriffen Initiative und zogen abends los, um unsere Frauen zu schützen. Moment ‚mal! WIR Männer schützen UNSERE Frauen?! Hier kriecht doch wieder Besitzdenken in die Argumentation! Und was machen wir, wenn wir nach Einbruch der Dunkelheit in Gruppen durch die Strassen ziehen? Ausländer verprügeln? Nein, natürlich nicht! Nur wenn sie übergriffig werden, klar doch oder?
Und wenn wir am Abend im Wohnzimmer vor dem Fernsehapparat sitzen und unsere 17- jährige Tochter im Minirock zur Disco gehen will, dann sagen wir: ‚Zieh‘ Dir mal was anderes an! Du weisst doch was da draussen los ist! Man muss es ja nicht noch herausfordern!‘
Und wenn gerade wieder was passiert ist, dann verbieten wir ihr kategorisch tanzen zu gehen, denn dort sind diese Vergewaltiger ja auch, in den Clubs.
Und wenn unsere Frau dann einen neuen Job mit besseren Karriereaussichten und höherer Bezahlung bekommen könnte, stellen wir uns quer, weil dies Nachtdienste und nächtliche Parkhaussituationen mit einschliesst.
Und wenn dies alles sich noch mehr verschärft, dann handeln wir seltsamer Weise genauso wie die ‚Ausländer‘ und ‚Asylanten‘, die wir verurteilen: Wir schützen unsere Frauen durch restriktive Massnahmen und kreieren so genau das, wogegen wir kämpfen: Ungleichheit zwischen den Geschlechtern.
Ich will hier gleich einer Kritik begegnen, die mich zum Feigling abstempelt: Ich meine damit nicht, dass ein Mann in einer akuten Situation eine Frau nicht verteidigen sollte! Natürlich verteidigt ein Mann Frauen, die in Not sind. Zu jeder Zeit und an jedem Ort. Doch es ist ein Unterschied, ob wir jemanden verteidigen, wenn eine akute Bedrohung erkennbar ist, oder ob wir im Nachhinein losziehen, um die tatsächlichen oder vermeintlichen Übeltäter zu bestrafen. Ersteres ist Hilfe, letzteres ist Rache. Und zwischen beiden besteht ein enormer Unterschied!
Doch bevor ich nun weitergehe und eruiere, ob die Staatsgewalt die Frauen im öffentlichen Raum ausreichend schützen kann, will ich eine andere Frage stellen, die in unseren Köpfen herumgeistert: ‚Warum behandeln uns genau die Leute so schlecht, für die wir in die Bresche gesprungen sind, als sie zu tausenden aus Kriegsgebieten und viele auch einfach aus armen Ländern kamen und bei uns ein besseres Leben suchten?‘ Wir fühlen uns verarscht und schlichtweg ungerecht behandelt! Auf uns alle persönlich mag das auch zutreffen. Doch wenn wir den Blickwinkel etwas erweitern, dann erkennen wir ein ganz anderes Bild.
Um etwas verändern zu können, muss man alle Fakten kennen.
Die Situation, die sich anscheinend organisiert in der Silvesternacht in Köln sowie in anderen deutschen Städten manifestierte, schockiert uns. Wir hätten uns so etwas in unseren kühnsten Träumen nicht ausmalen können. Hunderte Männer ‚verabreden‘ sich über die sozialen Medien und versammeln sich zur sexuellen Belästigungs-Party, zum Vergewaltigungs-Flashmob. Doch was wir zum Jahreswechsel in Köln gesehen haben, ist in Ländern wie Ägypten, Tunesien oder Algerien an der Tagesordnung. Wenn Frauen sich dort in den öffentlichen Raum begeben, erleben sie solche Dinge beim Einkaufen, beim Spaziergang, beim Besuch der Verwandten auf der Strasse. Der Term dafür ist ‚el – taharrush‘. Es gibt sogar schon Studien feministischer Organisationen im Nahen Osten hierüber. Eigentlich nichts neues also. Nur für uns in unserem abendländischen Wattebausch.
Aber wie kann das sein? Es wird immer gesagt, dass muslimische Männer (und es sind ja vor allem Muslime, die so etwas machen, oder?) nur Frauen belästigen, die ‚haram‘, also ‚unrein‘, sind, weil sie schon vor der Ehe mehrere Männer hatten und deshalb ehrlos seien. Doch das stimmt eben nicht. Das ist nur eine Ausrede. In Arabien und Nordafrika werden auch verheiratete Frauen, die mit Kindern unterwegs sind, belästigt. Auch alte Frauen sind davor nicht sicher. Es ist zu einer solchen Plage geworden, dass sogar im patriarchalen Macho-Land Ägypten, die Regierung ein scharfes Gesetz gegen sexuelle Belästigung verabschieden musste. (Ich sage hier ‚musste‘, weil sich die zuständigen Politiker lange dagegen sperrten.)
Obwohl dieses Problem schon seit einigen Jahren existiert, ist es auch in den patriarchalischsten Kulturen des Islam nicht Tradition, Frauen in der Öffentlichkeit zu begrapschen oder gar sexuell zu missbrauchen! Im Gegenteil: Der Islam stellt Frauen unter einen besonderen Schutz. Anstatt jedoch von den Männern die Kontrolle über ihre Triebe einzufordern, versuchte man die Frauen möglichst zu verbergen. Deshalb entstanden Kleidungsstücke wie Hijab, Chador und Burka, die die Attraktivität verhüllen. In vielen muslimischen Ländern gibt es aus den gleichen Gründen in den öffentlichen Verkehrsmitteln Frauenabteile. Irgendwie schienen muslimische Männer noch nie viel Vertrauen in ihre Geschlechtsgenossen gehabt zu haben. Dennoch hatte man bis vor kurzem die Situation einigermassen im Griff. Was also ist geschehen?
Noch vor einigen Jahren – bevor die Bedrohung durch den Terrorismus unser Bild von den muslimischen Ländern bestimmte – hörte ich des öfteren Frauen von den erotischen Fähigkeiten nordafrikanischer Männer schwärmen. ‚Der zweite oder gar dritte Orgasmus der Frau gehört bei denen dazu!‘, erklärte mir eine gute Freundin. Vor allem Tunesien war ein Land, wohin Frauen (wie ihre Ehemänner nach Thailand) fuhren: zum Sextourismus. Das lief natürlich nicht wie Prostitution mit Bezahlung ab! Die jungen Nordafrikaner hatten eben einfach keine Möglichkeiten, mit den Frauen in ihren Ländern zu schlafen. Daher verlegten sie die erotischen Aktivitäten auf die Touristinnen, die dankend annahmen.
Doch dann veränderten sich zwei Dinge grundlegend:
- Der Krieg gegen den Terrorismus hatte im Islam eine breite Hinwendung zum Fundamentalismus zur Folge.
- Im Internet entstanden Plattformen mit leicht zugänglicher Gratis-Pornographie (Free Porn).
Diese beiden Zutaten hatten in ihrer Kombination verheerende Folgen auf die bis dato relativ stabile Moral der nordafrikanischen und arabischen Länder.
Doch nicht nur muslimische Länder sind von dieser erschreckenden Entwicklung betroffen. In Indien bietet sich beispielsweise ein ähnliches Szenario. Zwar gibt es dort keine Flashmobs mit sexuellen Übergriffen, doch man hörte vor wenigen Jahren sehr viel von brutalen Gruppenvergewaltigungen, deren Opfer sowohl indische als auch westliche Frauen waren. Obwohl das Land vornehmlich hinduistisch ist, waren aber die ‚Zutaten‘ wieder die gleichen: Tendenzen zum religiösen Fundamentalismus kombiniert mit freiem Zugang zu Pornographie. Indien hat kurz nach der letzten Präsidentschaftswahl diesbezüglich eine sehr undemokratische sowie unpopuläre Entscheidung getroffen: Alle Pornoseiten im Internet wurden vorübergehend gesperrt. Von heute auf morgen. Ohne längere Vorankündigung. Ob dieses Verbot den gewünschten Effekt hatte, ist zu bezweifeln. Auf jeden Fall hatte man dort eines der Grundübel erkannt. Mittlerweile sind die Seiten wieder zugänglich, da sie dem Recht auf Meinungsfreiheit widersprachen.
Es wird Zeit, weiter zu gehen als Schuldzuweisungen zu verteilen und nach Sündenböcken Ausschau zu halten.
Natürlich ist in den meisten muslimischen Ländern Pornographie offiziell nicht erlaubt! Porno ist im Islam vielmehr absolut ‚unrein‘ (haram) und muss daher von einem gläubigen Muslim strikt gemieden werden. Doch die jungen Leute – insbesondere die jungen Männer – kümmern sich nicht wirklich um diese moralischen Regeln. Es ist ja auch einfach, die eigene Privatsphäre zu wahren, wenn sich alles nur auf dem Smartphone abspielt. Doch die Diskrepanz zwischen virtueller und gesellschaftlicher Realität ist unüberbrückbar. Daher schwappte der Porn-Mind dann in den öffentlichen Raum über.
Nun trafen zwei frauenverachtende Prinzipien aufeinander: Der fundamentalistische Islam mit seinem erniedrigenden Frauenbild und eine zum grossen Teil gewalttätige Pornographie, deren Sexismus kaum zu übertreffen ist!
Ich möchte hier nicht falsch verstanden werden. Ich habe im Prinzip nichts gegen Pornographie. Was mich jedoch an den meisten heterosexuellen Pornos, die in den letzten 10 – 15 Jahren produziert wurden, stört, ist die Brutalität gegenüber Frauen, ist das Benutzen von weiblichen Körpern zur reinen Selbst-Befriedigung von Männern. Wenn Pornographie beide Partner zu ihrem Recht, das heisst zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse kommen lässt, ist dagegen gar nichts zu sagen. Im Gegenteil: Es ist gut, dass beide Geschlechter ihre pornographischen Bedürfnisse ausleben können, insofern sie diese haben. Doch die erniedrigende Art und Weise, in der Männer ihre schwindende Überlegenheit zumindest noch beim Anschauen von Videos ausleben müssen, ekelt mich schlichtweg an. Und die Tendenz ist, dass Gewalt in der Pornographie zunimmt!
Und um noch einmal auf meine obige Aussage über das Frauenbild im fundamentalistischen Islam zurückzukommen: Ich bin der Meinung, dass der Islam an und für sich alles andere als frauenfeindlich ist. Wenn man den Koran richtig liest, in seinen historischen und regionalen Kontext stellt und die Absichten Muhamads berücksichtigt, stellt man fest, dass diese Religion den Schutz und die Autonomie der Frauen ursprünglich als ein zentrales Anliegen verfolgte. In meinem Artikel „EinBlick in den Islam“ schrieb ich bereits:
‚Die Araber waren ein Volk des Krieges. Kämpfe waren im Wesentlichen das einzige, was sie alle gemein hatten. Kämpfen bedeutete im Grunde, dass die Männer ein sehr kurzes Leben hatten und die Frauen ungeschützt waren, um es gelinde auszudrücken. Es ist schwer, Aussagen über die damalige Zeit zu machen. Aber es gibt Geschichten, dass das Verhältnis von Männern und Frauen eins zu fünf war. Das war sehr schlecht für die Frauen. Sie wurden mehr oder weniger wie Besitz (oder schlechter) behandelt, und ihr Wert war im Grunde davon abhängig, ob sie männliche Nachkommen produzierten. Heirat in dem Sinne, dass ein Mann die Verantwortung für eine Frau und für seine Kinder auch nach der ersten erotischen Erregung übernahm, war nicht die Regel.
…
Es gibt im Islam viele Gesetze bzgl. Frauen, die heute nicht mehr verstanden werden, weder von den westlichen Gesellschaften noch von den muslimischen Ländern! Nehmen wir zum Beispiel die Polygamie: Der Prophet erlaubte jedem Mann vier Ehefrauen. Der Grund für diese Regelung war hauptsächlich, dass es eine Verordnung geben musste, welche die Frauen schützte, insbesondere die Kriegerwitwen! In den prä-islamischen Gesellschaften endete eine Frau, die weder reich war noch männliche Verwandte hatte, die sich um sie kümmerten, leicht als Bettlerin auf der Strasse bzw. wurde versklavt oder musste sich prostituieren. Das Gesetz des Korans, das es einem Mann ermöglichte, mehr als eine Frau zu haben, war für viele Frauen ein Lebensretter, vor allem für diejenigen, deren Männer im Kampf gestorben waren.‘
Was jedoch vor 1300 – 1400 Jahren ein sozialer Fortschritt war, ist heutzutage eine himmelschreiende Ungleichheit! Es tut Not, dass man beginnt, die Schriften des Islam im Hinblick auf ihre damaligen Absichten zu lesen, anstatt ihren Wortlaut für alle Zeiten als absolutes Gesetz zu verstehen. Leider wird der Koran jedoch meistens so ausgelegt wie vor 1000 Jahren, wodurch er von seinem inneren Kern und moralischem Gehalt fast vollständig getrennt wird.
Doch noch einmal zurück zu der Frage, die ich zuvor stellte: ‚Warum behandeln uns genau die Leute so schlecht, für die wir in die Bresche gesprungen sind, als sie zu tausenden kamen und bei uns ein besseres Leben suchten?‘
- Als die Flüchtlinge begannen, nach Europa zu strömen, hörte ich oft einen Spruch, der sehr logisch klingt: ‚Ich finde man sollte die Probleme auch dort lösen, wo sie entstanden sind.‘ Gemeint war damit, dass man in den Krisenherden selbst etwas ändern müsste, damit die Leute dort erst gar nicht weggehen. Doch wenn man sich die Sache genauer anschaut, sieht man, dass die Ursachen der dortigen Probleme zum überwiegenden Teil bei uns liegen. Ohne jetzt historische Entwicklungen aufarbeiten zu wollen, muss man sich nur die momentane Politik und Wirtschaft anschauen. Die Länder, die betroffen sind, stellen selbst keinerlei Waffen her. ISIS kämpft mit Waffen aus aller Herren Länder … auch mit deutschen. Deutschland steht weltweit als Waffenexporteur an dritter oder vierter Stelle. (Die Angaben schwanken.) Wenn wir also keine Waffen und Munition an Partner liefern würden, die diese postwendend an den IS weitergeben, dann hätten wir schon einmal ein Problem dort gelöst, wo es verursacht wurde: bei uns selbst.
- Ein weiterer Punkt ist der Ölschmuggel aus dem Irak in den Westen. Dieser findet – geduldet von der Regierung Erdogan – durch das Gebiet der Türkei statt. Würde dieses Öl nicht von uns gekauft werden, hätte der Islamische Staat gar kein Geld für seinen Krieg! Innerhalb von wenigen Wochen oder Monaten hätten die Söldner des IS keinen Schuss Munition mehr! Das gleiche gilt für den nicht enden wollenden Nachschub an Soldaten, die aus den westeuropäischen Ländern (wiederum durch die Türkei!) zur Unterstützung des Islamischen Staates ins Kriegsgebiet strömen. Ähnlich verhält es sich mit allen terroristischen Splittergruppen, die sich gegen das Regime von Baschar al- Assad stellen. Wo entsteht nun dieses Problem, wenn nicht – zumindest auch – bei uns?!
- Der dritte Punkt ist die Einmischung unserer Streitkräfte in Krisengebieten. Die deutsche Geschichte und die daraus entstandene Ethik erlauben uns eigentlich gar keine Kriege, die nicht strikt und direkt der Verteidigung unseres eigenen Territoriums dienen! Aggression erzeugt immer nur Gegenaggression. Das war noch nie anders. Das ist keine Naivität und auch keine pazifistische Ideologie. Das ist die Stimme der Vernunft. Da ich davon ausgehe, dass die meisten unserer Politiker keine Torfnasen sind, muss ich schlussfolgern, dass andere Motive dahinterstecken. Dies bietet Raum für Spekulationen, auf die ich hier jedoch nicht weiter eingehen möchte.
Natürlich ist die Situation viel komplexer. Ich greife hier nur einige Beispiele heraus. Wie dem auch sei … Hauptgrund der Flüchtlingsströme Richtung Europa sind diese Kriege, die lediglich der Kontrolle über Bodenschätze dienen bzw. global gesehen die Folgen einer jahrhundertelangen Ausbeutung bestimmter Regionen sind. Wenn wir also Millionen von Flüchtlingen aufnehmen, dann tun wir genau das: Wir lösen die Probleme dort, wo sie entstanden sind, nämlich bei uns. Natürlich gilt dies nicht nur für Deutschland. Es ist die Geschichte von ganz Europa, welches seit Beginn des Europäischen Kolonialismus (1520) die Welt der technologisch weniger entwickelten Länder ausbeutete und unterdrückte. Und wenn man dann sagen möchte, dass ja auch die Australier, die Amerikaner (Nord und Süd), die Südafrikaner usw. ausgebeutet und unterdrückt hätten, kann man nur antworten: ‚Genau! Und diese Leute kamen eben aus Europa!‘
Die Freiheit, in der wir leben, ist noch jung.
Ganz ähnlich verhält es sich auch mit den Erscheinungen sexueller Gewalt, die von Männern mit Migrationshintergrund ausgeht. Die muslimische Moral erlaubt sexuelle Betätigung nur innerhalb der Ehe. Wir hatten diese Situation in den christlichen Ländern Europas auch. Ich kann mich, da ich zur ersten Generation der ’sexuell Befreiten‘ gehörte, noch sehr gut an die Diskussionen mit meinen Eltern, LehrerInnen und Geistlichen über dieses Thema erinnern. Die Antwort auf eine befreite Sexualität war bestenfalls Unverständnis, meist Angst und als Folge von beiden: Aggression. Die Freiheit, in der wir leben, ist noch jung. Sie ist noch nicht gefestigt und erst für die Kinder derjenigen, die bereits befreit leben, selbstverständlich.
Doch zu uns kam die erotische Freizügigkeit sanft, sozusagen in homöopathischen Dosen. In den islamischen Ländern hatten die jungen Leute plötzlich eine kleine Plastikschachtel in der Hand, auf deren Oberfläche man realitätsgetreue, sexuelle Aktivitäten aller Spielarten betrachten kann. Niemand konnte ihnen das erklären, geschweige denn ihnen helfen, diese Dinge in ihr eigenes Leben einzubetten. Die zwangsläufige Interpretation dieser Sexfilme orientierte sich an der tradierten Moral und den gängigen Freund- und Feindbildern. Man sieht eben vor allem weisse, westliche Frauen, denen es zu gefallen scheint, mit vielen Männern sexuell aktiv zu sein. Frauen, die dies tun, sind laut muslimischer Moral ‚haram‘, also unrein. Muslimische Frauen tun so etwas nicht bzw. werden vor der Unreinheit ‚beschützt‘. Seltsamer Weise scheint sich dieser sogenannte „Schutz“, der in Wirklichkeit nur eine patriarchalisch-sexistische Restriktion darstellt, lediglich auf die Frauen der eigenen Familie zu beziehen. Andere – auch muslimische – Frauen werden ebenfalls ‚unrein‘, wenn sie z.B. vergewaltigt wurden. Doch dies ist das Problem ihrer eigenen Familie. Wenn die Familie eines Vergewaltigungsopfers die eigene Tochter, Schwester, Ehefrau oder gar Mutter nicht ausreichend beschützt hat, sodass es zu einem Übergriff kommen konnte, dann hat sie sozusagen ‚darum gebeten‘. Dies sind extreme Positionen, doch sie verbreiten sich in der Ambiguität zwischen Moral und Sexualtrieb im strengen Patriarchat des Islam wie eine Seuche. Grund hierfür ist die Notwendigkeit, das eigene Handeln auf Biegen und Brechen mit der Moral in Einklang zu bringen, ohne sich dabei dem eigenen Gewissen stellen zu müssen. Die jungen Männer kommen also völlig unaufgeklärt zu uns. Sie sind teilweise durch die Hölle gegangen, wurden vielleicht Zeuge der Vergewaltigung der eigenen Schwester oder der brutalen Ermordung von Familienmitgliedern. Sie sind traumatisiert und werden mit einer Welt konfrontiert, deren Freizügigkeit sie nicht einordnen können. Auf so jemanden, der noch nie eine nackte Frau gesehen hat, wirkt beispielsweise eine Unterwäschereklame wie ein Schlag in den Unterleib.
Man darf Gewissen nicht mit Schuldgefühl verwechseln.
Man kann nun lange nach Schuldigen und Ursachen suchen. Vielleicht kann man sie sogar finden. Doch es wird Zeit, weiter zu gehen als Schuldzuweisungen zu verteilen und nach Sündenböcken Ausschau zu halten. Wir brauchen Lösungen. Ein Lösungsansatz besteht meines Erachtens in der Konfrontation mit dem eigenen Gewissen. Um mit dem Gewissen umzugehen, muss man Verantwortung übernehmen. Man darf Gewissen jedoch nicht mit Schuldgefühl verwechseln. Schuld-Gefühl ist die Folge einer inneren oder äusseren Schuld-Zuweisung, welche aus der (berechtigten oder unberechtigten) Anklage, einen moralischen Fehler begangen zu haben, entsteht. Gewissen lässt sich generell mit der Frage ‚Würde ich so behandelt werden wollen, wie ich andere behandle?‘ beantworten. Dieser Unterschied ist meines Erachtens essentiell im Umgang mit den derzeitigen Problemen bezüglich sexueller Übergriffe
Wir befinden uns in einer gesellschaftlichen Situation, die einer Veränderung bedarf. Ich glaube, da sind sich alle Fronten einig. Um etwas verändern zu können, muss man jedoch alle Fakten kennen, und zwar sowohl die offensichtlichen als auch die verborgenen. Es gibt eine simple psychologische Grundregel: Veränderung beginnt mit Akzeptieren. Bevor nun viele in Empörung ausbrechen, möchte ich diese Grundregel erklären.
Keiner will, dass sich Vorfälle wie in der Silvesternacht 2015/16 wiederholen. Doch viele lassen ausser acht, dass es sich bei den Geschehnissen um Dinge handelt, die auch in unserem eigenen Kulturkreis gegenwärtig sind … nur eben nicht in dieser Ausprägung. Um dies darzulegen möchte ich nur ein paar Zahlen betrachten:
- 2012 hörte man von schrecklichen Vergewaltigungen in Indien. Man konnte in den Medien lesen, dass in New Delhi alle 18 Stunden eine Frau vergewaltigt wird. Alle waren empört. In Deutschland jedoch findet alle 68 Minuten eine Vergewaltigung statt. Delhi hat 23 Millionen Einwohner; Deutschland 82 Millionen. Wenn man dies nun hochrechnet, dann finden in Deutschland 21 Vergewaltigungen pro Tag statt (abgerundet). Wäre in Delhi die Einwohnerzahl identisch, wären es dort 5 (aufgerundet)! Die Dunkelziffer liegt – aus unterschiedlichen Gründen – in beiden Ländern weit höher.
- Seit Anfang der Jahres gibt es erschreckende Zahlen bzgl. der allein reisenden, minderjährigen Flüchtlinge: In ganz Europa sollen mindestens 10.000 (zehntausend!) Kinder und Jugendliche verschwunden sein. Innerhalb Deutschlands seien es über 4.000 (viertausend!), wovon weit über vierhundert unter dreizehn Jahre alt sind! Man geht davon aus, dass etwa die Hälfte der Fälle kriminelle Ursachen haben. Dies seien laut Europol und BKA vorsichtige Schätzungen. Es würde also niemanden wundern, wenn die Zahlen weit höher lägen. Diese jungen Menschen sollen in den Kanälen der Kinder- und Jugendprostitution verschwunden sein. Das Dramatische hierbei ist, dass sich die Zahlen seit Sommer 2015 fast verdreifacht haben. Das bedeutet, dass sich in unserem eigenen Land die Misshandlungskriminalität zur Entführung und Verschleppung Minderjähriger regelrecht ‚industriell‘ organisiert hat!
- Laut der gängigen Quellen gehen bundesweit, täglich (!) 1.200.000 (1,2 Millionen) Männer zu Prostituierten. Viele sagen es seien bedeutend mehr, doch es ist schwierig solche Zahlen zu recherchieren. Hochgerechnet sind das 438.000.000 (438 Millionen) Freier pro Jahr. Grob geschätzt leben in Deutschland etwa 25.000.000 (25 Millionen) Männer über 20. Das bedeutet, dass der deutsche Mann statistisch gesehen 17 Mal (abgerundet) pro Jahr ins Bordell geht. Da sicher nicht alle Männer auch Freier sind, gibt es unter den ‚aktiven Bordellbesuchern‘ viele, die zwei Mal im Monat und öfter ins Bordell gehen. Den meisten Freiern sind die persönlichen Umstände, die die Frauen zur Sexarbeit bringen, ihre Herkunft sowie die Art und der Grad der Freiwilligkeit egal. Im Kapitalismus erhält man durch die Bezahlung eine moralische Legitimation – das ist auch beim Sex so. Wenn man für etwas bezahlt hat, muss einem der Rest nicht mehr interessieren. Alles ist mit dem Geldtransfer abgegolten. Wie bei der Pornographie weiter oben möchte ich mich nicht als Moralapostel aufspielen. Ich bin nicht gegen Prostitution, solange sie auf tatsächlicher Freiwilligkeit der Sexarbeiterin beruht. Ich kenne Frauen, die nach einem erfolgreich abgeschlossenen Studium ganz bewusst und ohne Not diesen Weg eingeschlagen haben. Ich kenne übrigens auch Männer, die so ihren Lebensunterhalt verdienen. Man kann jedoch davon ausgehen, dass es eine breitgefächerte Grauzone der Unfreiwilligkeit und des Zwangs gibt. Diese reicht von der zwangsweisen Ausbeutung von Frauen, die aus weniger wohlhabenden Nachbarländern kommen, bis hin zu Studentinnen, die sich ihr Studium mit Sexarbeit finanzieren. Dies spreche ich hier an.
Wenn man für etwas bezahlt hat, muss einem der Rest nicht mehr interessieren. Alles ist mit dem Geldtransfer abgegolten.
Man kann die Liste sexueller Ungleichheit und sexualisierter Gewalt in Deutschland noch fortsetzen und dann noch um einige Punkte allgemeiner Ungleichbehandlung erweitern. Angefangen bei unserer mangelhaften Vergewaltigungsgesetzgebung bis hin zu ungleicher Bezahlung bei gleicher Arbeit sind wir in unserem Land weder in der Theorie noch in der Praxis an einem Punkt, an dem man von tatsächlicher Gleichstellung zwischen den Geschlechtern sprechen kann. Was ich damit sagen will ist folgendes: Wir regen uns (zurecht!) über sexuelle Übergriffe im öffentlichen Raum gegenüber Frauen auf, lassen dabei aber ausser acht, dass wir selbst eine Tradition unter den Teppich gekehrter, sexualisierter Gewalt mit uns herumschleppen!
Natürlich müssen wir uns gegen den Einzug einer frauenverachtenden Kultur in unsere Gesellschaft wehren. Die Frage ist nur ‚wie‘. Ich glaube, dass Bürgerwehren und ähnliche Aktivitäten, die übrigens irritierend negative Klischees des ‚typisch Deutschen‘ bedienen, nicht die richtigen Wege sind. Einen erfolgreichen Kampf gegen importierte Frauenverachtung können wir nur kämpfen, wenn wir den Mut aufbringen, unsere eigenen toten Hunde auszugraben und ein für alle mal zu verbrennen. Auch bei uns ist Sexualität aus männlicher Sicht weitestgehend noch immer auf Entladung und Druck-Ablassen sowie (gewünscht oder ungewünscht) auf Fortpflanzung gerichtet. Wenn man Frauen gleichberechtigt erotisch begegnen will, muss man in der Sexualität die Möglichkeit sich miteinander zu verbinden und zu kommunizieren sehen.
Wir Männer sind am Zug, die Gleichberechtigung nicht nur zu verteidigen sondern diese endlich zu einer vollständigen Realität zu machen. Hierfür müssen wir uns selbst bei der Nase fassen. Alle Männer kennen das: Wenn ich zu einem andern Mann sage, was für ein Idiot er ist, und ihm gleichzeitig suggeriere, wie toll ich selbst bin, dann macht er zu; vor allem wenn ich offensichtlich gar nicht der Supermann bin, den ich gerne verkörpern möchte. Gehe aber auf einen Mann zu, der offensichtlich Scheisse gebaut hat, und sage ihm, dass ich das verstehe, da ich selbst mit solchen Tendenzen zu kämpfen habe, dann öffnet er sich. Diese Öffnung ist ein Schritt in Richtung Veränderung. Er fühlt sich nämlich akzeptiert und hat den Raum, einen Richtungswechsel einzuleiten. Dies meine ich damit, wenn ich sage: Veränderung beginnt mit Akzeptieren.
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass das Problem nicht (nur) in der unterschiedlichen Position der Frau in verschiedenen Kulturen zu suchen, sondern vor allem in der Geringschätzung weiblicher Qualitäten und Attribute in noch immer von maskulinen Werten dominierten Gesellschaften zu finden ist; also auch in unserer! Ein Mann, der im Kinderjahr war, kommt nach wie vor nicht für einen Job im Top-Management in Frage. Eine Frau unter dreissig hat nach wie vor schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, weil sie schwanger werden könnte. Die pseudo-muslimische Herabwürdigung der Frauen ist nur eine andere Ausprägung der Ungleichbehandlung, die wir in unserer eigenen Gesellschaft auch noch nicht vollständig überwunden haben.
Daher rufe ich alle Männer, die in Deutschland leben, aufgewachsen und integriert sind, auf, sich mit den Männern, die erst vor kurzem hier eingetroffen sind, an einen Tisch zu setzen und zu reden. Erzählt von den Vorteilen, die sich daraus ergeben, wenn Männer und Frauen sich auf gleicher Ebene begegnen. Sprecht von dem besseren Sex, den man mit einer selbstbestimmten Frau haben kann, von der intellektuellen Partnerschaft, die eine befreite Frau zu bieten hat, und von dem emotionalen Netz, das vollwertig geachtete Frauen für uns Männer spannen können und in welches wir uns vertrauensvoll fallen lassen können. Sprecht von Partnerschaften, in denen man miteinander in Harmonie und Reibung wächst und immer mehr sich selbst wird. Sprecht von dem Weg, den man in Freundschaften zwischen Frauen und Männern miteinander gehen kann, was man jedoch nur erlebt, wenn beide das innere und äussere Patriarchat hinter sich lassen.
Es ist an uns Männern, diesen neuen Schritt der Gleichstellung machen. Doch wir brauchen dafür den Mut, unsere eigenen Unvollkommenheiten ins Licht zu stellen und zu heilen. Ich rufe alle Männer dazu auf, die innere Kraft hierfür aufzubringen, um den Wandel in Richtung Gleichbehandlung und Integration weiterzuführen und schließlich zu vollenden.