Der Choreograph und Tantriker Johannes Bönig inszenierte an Theatern seine spirituelle Vision. Er ist besessen, zur künstlerischen Arbeit getrieben. Für seine Kreativität benötigt er immer wieder eine Muse. Als diese fehlt, entdeckt er in einem schmerzhaften Prozess seine eigene Weiblichkeit und gelangt dadurch zu einem vorläufigen Endpunkt seines Schaffens.
Tantra – ich kenne viele Geschichten, die davon handeln. Geschichten aus Indien, Tibet, von Ashrams und Sadhus, in neuerer Zeit auch einige aus Amerika und der Südsee … doch die Orte, an denen ich Tantra erlebte, waren um die Ecke, ganz nah. Die Erlebnisse, die mich von der Realität Shivas und Shaktis überzeugten, ereigneten sich in meinem Gehirn, in meinen Hormondrüsen, in meinem Körper und veränderten meine Standpunkte so nachhaltig, dass es mir jetzt schwerfällt zurückzukehren zum Ausgangspunkt, um Euch den Verlauf zu schildern. Doch ich werde es versuchen.
Ich flirtete mit Bildern von mir selbst, als ich begann, mich auf das endokrinologische Abenteuer Tantra einzulassen. Ich dachte mir, dass Erleuchtung ein lohnenswertes Ziel sei. Was diese Erleuchtung denn ist … wer weiss das schon, wenn er ehrlich ist. Gurus? Meister? Lehrer? Auf jeden Fall gibt es genug Wegbeschreibungen dorthin. Ich kenne jedoch niemanden persönlich, der angekommen ist. Dennoch, es galt Entscheidungen zu treffen, wenn schon nicht die richtigen, dann zumindest folgenschwere. Vielleicht hoffte ich, durch Explosionen ein Stück Licht zu erhaschen. Doch Licht ist flüchtig. Wenn man es sieht, so ist es bereits wieder unterwegs von uns fort, reflektiert, hinaus ins Weltall. Und was am wichtigsten ist: Dann wenn man es sieht, ist man gleichzeitig das Objekt, auf das es trifft und das einen Schatten wirft. Ohne reflektierendes Objekt ist Licht unsichtbar. Der Schatten ist der Beweis für die Anwesenheit des Lichts. Und wenn der Schatten den Beweis antritt, so ist es das Dunkel, das unser Gesichtsfeld einnimmt.
Tantra muss jeden Moment ergreifen
Ich war besessen von etwas, das ich damals Kreativität und Kunst nannte. Ich machte Theater, und war damit erfolgreich genug, dass ich davon leben konnte. Doch ich war nicht frei. Ich war getrieben zu tun, was ich tat, und es kam mir lange Zeit nicht einmal der Gedanke, mich zu widersetzen. Ich reiste durch die Welt, um meine Vision einer möglichen Erleuchtung auf immer wieder neue Art und Weise zu erzählen. Ich chiffrierte, codierte. gestikuliere. Und in meiner Feigheit, das Kind beim Namen zu nennen, tat ich genau das, was mir am verhasstesten war: Ich betrieb Tantra als Sontagsgottesdienst, heimlich und im Verborgenen. Gleichzeitig hatte ich den Anspruch, dass es immer jeden Moment, jede Situation ergreifen müsste. Um durch das zu steigen, wodurch man fällt, beschloss ich, mich meinen Begierden hinzugeben, und nannte sie Lust. Mein Leben hatte Konturen angenommen, die mir gefielen, auch wenn ich nicht oft wirklich glücklich war.
Ich schwor keine Treue mehr, zumindest keine sexuelle. Ich gab den Menschen, die ich liebte, keine Versprechen mehr, von denen ich wusste, dass ich sie nicht halten konnte. Ausserdem erprobte ich meine Grenzen der Ehrlichkeit. Meine Partnerin durfte wissen, wen ich sonst noch liebte und wie und wo und wann, all das. Ja. Ich konstruierte mir ein Leben der freien Liebe, der offenen Beziehungen und hoffte, dass meine emotionale Loyalität stark genug wäre, dies alles zu überdauern. Noch mehr hoffte ich, dass die innere Treue der anderen auch standhalten würde. Ich war verdammt unsicher und fühlte mich meist scheißalleine.
Die Muse
Ich inszenierte damals in der Schweiz. Meine Frühjahrsaussichten waren drei Monate in einer kleinen Stadt, ein Orchester, Tänzer, Sänger, ein Chor. Freunde hatte ich dort nicht. Doch das war auch nicht notwendig. Die Jahre des Herumziehens härten Handlungsreisende in Sachen Kultur ab. Sonst wäre es nicht auszuhalten. Notwendig war jedoch eine Muse. Im Lauf der Jahre hatte sich bei mir ein Mechanismus herauskristallisiert, den zu bedienen, ein spannendes, immer wieder neues Abenteuer war. In der kreativen Phase benötigte ich ein Gegenüber, eine Frau, die mich spiegelte, mit der ich mich über den künstlerischen Prozess austauschen und auseinandersetzen konnte. Dies funktionierte über die Erotik, den Sex, die Zärtlichkeit. Es ist ein Klischee und klingt berechnend, doch ich war nicht gefühllos und glaube nicht, jemals einen Menschen missbraucht zu haben. Ich verstand es, Begegnungen für meine kreativen Prozesse zu nutzen. Bis zu meinem Aufenthalt in dieser Schweizer Stadt hätte ich mir jedoch niemals eingestanden, dass ich von diesen Begegnungen abhängig war. Ich dachte, dass ich einfach die Frauen liebte, doch in Wahrheit war ich ein Junkie der weiblichen Energie. Ich kam also an in der Stadt, am Theater, in der kleinen Künstlerpension, wie sie wahrscheinlich nur noch in Kleinstädten des deutschen Sprachraums existieren. Ich lernte das Ensemble kennen, machte Probenpläne und erwartete die Anreise meiner nagelneuen Liebe. Die Frau, mit der ich zusammenlebte, interessierte sich kaum für meine Arbeit. Daher kam sie als Muse nicht in Frage, so sehr ich ihr das auch zum Vorwurf machte. Ob aus Intuition oder Weisheit, aber wahrscheinlich aus einer Kombination von beidem hatte sie mich durchschaut. Sie war an interessiert, nicht an den Krücken meines Verständnisses von Kreativität. Sie hatte genug Nachsicht mit mir, um mich zu lassen. Darum leben wir wohl noch immer zusammen. Meine Gefährtin wollte meine Frau sein, ja; aber nur in den Punkten, in denen ich bereits ein Mann war.
Ein Tantriker ohne Sex
Es geschah natürlich das Debakel: Die Muse sagte aus heiterem Himmel ab. So. Jetzt war da ein Loch. Ich fühlte mich absolut beschissen und mir wurde klar, dass ich auf diese Weise unmöglich eine Vorstellung kreieren konnte. Mich ergriff Panik. Ich versuchte, was ich noch nie gekonnt hatte: Ich zog durch Kneipen und suchte die Frau. Ich fand sie auch. Dreimal. Und dreimal ereignete sich eine fast identische Szene, jedoch mit unterschiedlichen Hauptdarstellerinnen: Ich lernte eine Frau kennen und der abendliche Flirt mündete in sexuelle Erregung. Wir gingen zu ihr nach Hause, ins Bett. Dort tat ich mein bestes, den Bedürfnissen meiner Partnerin gerecht zu werden, die in keinem der drei Fälle den Coitus einschlossen. Nachdem ich die Frau befriedigt hatte, wurde ich sanft aber bestimmt aus dem Bett komplimentiert und fand mich jedesmal ca. eine halbe Stunde später in einem Taxi wieder, das mich zu meiner Pension brachte. In keinem der Fälle hatte ich selbst Befriedigung oder auch nur intensive Lust erreicht. Ich war benutzt worden. Und ich fühlte mich immer leerer und ausgelaugter. Also gab ich es auf. Es wurde mir immer klarer, in welcher Abhängigkeit ich mich befand, und überlegte in wachsender Verzweiflung, auf welche Weise ich wohl ‚trocken‘ werden könnte. Ich war Tantriker und konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ein Tantriker ohne regelmässigen Sex auskommen sollte.
Begegnung mit Shakti
Also baute ich mir aus einer Shiva-Statue, meinem Yantra und einer Kerze einen Altar und setzte mich täglich zweimal davor, einmal zur Meditation und einmal zum tantrischen Einzelritual. Ich fühlte mich verzweifelt und wusste nicht, ob ich die drei Monate überstehen würde, ohne einen Flop zu fabrizieren und ohne völlig zu vertrocknen. Ich versuchte meine sexuelle Energie völlig ohne Gegenüber zu speichern und schrie dabei die Mantras in mich selbst hinein, in die Dunkelheit und in die Leere in meinem Hinterkopf. Ich bettelte darum, dass die Göttin mich an der Hand nimmt und mir den Weg heraus aus dieser Mistgrube des Selbstmitleids und der Sucht nach einem äusseren Spiegel zeige.
Was dann geschah muss ich umschreiben. Es war wie ein Fernsehfilm, in dem man sich selbst als Hauptdarsteller sieht, mit einer Mischung aus Verwunderung und Selbstverständlichkeit. Shakti sprach zu mir. Sie sprach aus mir, als ein Teil von mir und gleichzeitig wie eine Fremde zu mir. Sie war in mir und gleichzeitig auch in allen andern – Männern wie Frauen. Sie stellte sich vor als meine Anima, als Göttin, als Schutzengel, als Shakti, als Energie, als Gesamtheit all dieser Dinge. Sie machte mir klar, dass sie alles war, was ich ersehnte und nie gefunden hatte, weil ich aussen anstatt innen gesucht hatte. Sie verkörperte aber auch alles, was ich fürchtete, und bei Frauen immer wieder erlebte. Angst ist schlimmer als Schmerz. Darum ist der Schmerz der Ent Täuschung der Angst und der Flucht vorzuziehen, da er Wachstum bringt. Jede Begegnung mit Frauen würde ab jetzt zu einer Begegnung mit ihr werden. Und alles, was ich Frauen vorzuwerfen hatte, war die weinerliche Klage eines kleinen Jungen, der nicht erwachsen werden wollte, weil es weh tat …
Am Ziel meiner Arbeit
Was auch immer es war, das da mit mir gesprochen hatte, es veränderte mein Leben. Seit diesem Tag fühle ich mich nicht mehr getrieben. Doch ich stand vor dem Nichts. Mir wurde klar: Dieses Ereignis ist das Ziel meiner bisherigen künstlerischen Arbeit. Meine Begierde, meine Abhängigkeit von Musen, meine sexuelle Genuss-Sucht hatten mich an den Punkt gebracht, wo ich die Weiblichkeit in mir entdeckte. Ich hatte jetzt in mir selbst den Zugang zur Kreativität gefunden. Ich fühlte mich einerseits befreit. Es gab kein ‚Muss‘ mehr, keine Getriebenheit zur Kreativität. Das Ziel war gleichermassen erreicht. Doch ich bekam auch Angst. Was sollte ich denn jetzt tun? Jetzt, wo es keinerlei Notwendigkeit mehr gab, künstlerische Prozesse einzuleiten? Ich war frei, aber noch leerer als zuvor. Ich beendete meine Inszenierung. Sie war ein Erfolg. Aber es berührte mich nicht. Es dauerte lange, bevor ich meine Position neu bestimmt hatte. Ich inszeniere noch heute. Aber anders. Ich entscheide mich frei für meine Stücke, sowohl inhaltlich als auch formal. Ich verstecke mich nicht mehr. Ich vereinfache, anstatt zu chiffrieren. Ich bekenne mich zu dem, was ich bin, woran ich glaube und wie ich lebe.
Johannes Ganesh Bönig, 1997
zuerst erschienen in connection special/TANTRA 98, IV/97