Menschen, die wie ich in einem künstlerischen Beruf tätig sind, sehen das Problem der Xenophobie am liebsten als eines, das unsere direkten Lebensumstände nicht berührt. Wir haben Kultur und Bildung und stehen daher über den Dingen. Rassisten sind die anderen und das betrifft auch unsere Familien und Freundeskreise. Doch in letzter Zeit wird diese intellektuelle Schallmauer immer öfter durchbrochen und wir hören beim Geburtstagsfest der Oma oder beim Abendessen mit guten Bekannten plötzlich Kommentare, die uns Schauer über den Rücken jagen!
Die Mutter eines Freundes zum Beispiel wollte letztens ganz sicher wissen, dass Flüchtlinge weit mehr Sozialhilfe beziehen als unsere deutschen Mitbürger. Als Quelle wurde eine Bekannte, die bei der Stadt arbeitet, angegeben, „Die muss es ja schließlich wissen.“ Jeder Versuch das Gegenteil nachzuweisen, wurde kategorisch abgelehnt, obwohl es wirklich nicht schwer ist, im Internet die entsprechenden „Nachweise“ zu finden. Darüber hinaus beschwerte sie sich darüber, dass man den Schwarzen aus Afrika nagelneue Wohnungen zur Verfügung gestellt habe. „Und ein halbes Jahr später hatten die dann die ganzen Waschtische herausgerissen! Das hättest Du mal sehen müssen!“ Auf meine Frage, was sie denn genau gesehen hatte, konnte sie mir keine Antwort geben. Sie war dort nämlich gar nicht gewesen und hatte auch nichts persönlich gesehen. Alles stützte sich auf Berichte von Leuten, „die es ja wissen mussten!“ Als ich daraufhin etwas ungehalten wurde und sie des Rassismus bezichtigte, verwehrte sie sich wütend meiner Anschuldigungen. Sie sei beileibe keine Rassistin und habe im Übrigen nichts gegen Farbige. Sie habe nur etwas dagegen, wenn Asylanten sich nicht an die hiesigen Gegebenheiten – sprich: Ordnung und Sauberkeit – anpassen würden. „Ihren Dreck können sie zuhause machen! Aber hier in Deutschland gelten nun mal andere Regeln! Mit Rassismus hat das jedoch nichts zu tun.“ Die An-Forderung, dass in den eigenen vier Wänden vom Flüchtlingen deutsche Regeln der Sauberkeit und Ordnung zu gelten haben, ähnelt dem kürzlich gemachten Vorschlag zweier prominenter Politiker, dass auch innerhalb der Familien von Ausländern die deutsche Sprache gesprochen werden sollte. Abgesehen davon, ob dies nun rassistisch ist oder nicht, will ich diese Frage einmal von einer anderen Seite her aufrollen:
Wer entscheidet eigentlich, ab welchem Punkt kritische Bemerkungen in Rassismus umschlagen? Wo liegt die Grenze?
Als weißer Mitteleuropäer hat man selten mit Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zu tun, die sich gegen einen selbst richten. Doch wenn man häufig und oft genug im sogenannten Ausland (Wo genau ist das eigentlich?) gelebt hat, dann hatte man irgendwann mit Vorbehalten, Abgrenzungen oder mit offener Ablehnung zu tun. Nachfolgende Begebenheit macht das sehr deutlich.
Wenn man sich entschließt mit über 50 noch einmal Vater zu werden, begegnet man vielen vorhersehbaren und unvorhergesehenen Herausforderungen. So stand ich eines Tages mit einem Kinderwagen und einem Hexenschuss an einer Straßenbahnhaltestelle in einer niederländischen Großstadt. Als ich die Bahn um die Ecke fahren sah, sank mir das Herz in die Hose. Es war eine ‚alte Bahn‘, die drei hohe Stufen mit einem Geländer in der Mitte hatte, die ich nun mit dem Kinderwagen hinaufsteigen und überwinden musste. Glücklicherweise wartete gleichzeitig mit mir ein junger Mann in der Uniform der städtischen Verkehrsbetriebe an der Haltestelle. Ich bat ihn, mir doch bitte beim Einsteigen mit dem Kinderwagen zu helfen. Er schaute mich an und sagte: „Ich zeige Ihnen mal, wie man das macht!“ Nach diesem Statement ergriff er den Kinderwagen, hob ihn hoch und hievte ihn mühelos in die Bahn. Als er sah, dass ich sogar ohne Traglast beim Einsteigen sichtliche Schwierigkeiten hatte, fragte er: „Hexenschuss?“ Ich nickte bejahend und machte mich schon auf eine Bemerkung über meine nicht altersgemäße Vaterschaft gefasst. Doch weit gefehlt. Augenscheinlich war der Mann nicht nur gut zwanzig Jahre jünger als ich sondern hatte auch eine dunkle Hautfarbe. An seinem Akzent konnte ich hören, dass er aus Suriname, dem früheren Niederländisch-Guayana, stammen musste. Das ist in den Niederlanden nichts Besonderes. Grosse Teile der Bevölkerung stammen aus den ehemaligen Kolonien und sind farbig. Doch der Herr machte einen Punkt daraus: „Wissen Sie warum ich das kann und sie schon abtakeln?“ Ich schaute ihn fragend an. „Weil sie weiß sind und ich schwarz.“ Alle Passagiere der Straßenbahn ignorierten uns. Man hätte den Aufprall der sprichwörtlichen, fallenden Stecknadel hören können. Alle schauten ostentativ weg. Ich sagte: „So denke ich nicht.“ „Aber ich!“, entgegnete der dunkelhäutige Mann. „Die weiße Rasse ist schwach, die schwarze Rasse ist stärker!“ Ich wusste wirklich nicht, was ich entgegnen sollte. Ich war zum ersten Mal in meinem Leben mit einer gegen mich gerichteten rassistischen Diskriminierung konfrontiert. Ein wirklich seltsames Gefühl, das sich mit keiner wie auch immer gearteten ‚politischen Korrektheit‘ wegkürzen ließ. „Es gibt dafür einen ganz einfachen Beweis: Wenn ich mit einer weißen oder sie mit einer schwarzen Frau ein Kind zeugen, dann ist das Kind schwarz! Ein klarer Beweis, dass die schwarzen Gene stärker sind als die weißen … ganz abgesehen davon, dass schwarze Männer in Ihrem Alter keine Hexenschüsse bekommen!“ Ich bedankte mich für die Hilfe, setzte mich und wandte mich gedankenvoll meinem sehr weißen und blonden Sohn zu.
Hätte ich den jungen Mann des Rassismus bezichtigt, hätte er wahrscheinlich nur gelacht. Wahrscheinlich hätte er mich darauf aufmerksam gemacht, dass nur Weiße Rassisten sein können, oder er hätte mich ironisierend gefragt, ob ich mich denn ausgebeutet oder unterdrückt fühle. Obwohl ich natürlich trotz dieser Begebenheit an der weißen Vorrangsstellung (white supremacy) teilhabe und mir dessen während der ganzen Begebenheit sehr bewusst war, fühlte ich mich dennoch rassistisch diskriminiert. Wie kommt das?
Wir müssen uns beim Beantworten dieser Frage darüber im Klaren sein, dass unter anderem die emotionale Verletzung der diskriminierten Person bestimmt, ob und inwiefern eine Aussage rassistisch ist. Selbst wenn eine Äußerung nicht rassistisch gemeint ist, kann sie als rassistisch wahr- bzw. aufgenommen werden. Rassismus definiert sich nicht nur durch die Absicht der Agierenden sondern auch durch die Wirkung auf die Betroffenen. Dies bezieht sich nicht nur auf negative sondern auch auf positive Diskriminierung, wie z.B. die Annahme, dass „alle Farbigen gute Tänzer sind“ oder die Unterstellung, dass „Asiaten die Kampfkunst im Blut liegt“. Es wäre natürlich falsch zu glauben, dass einzig und allein die Verletztheit des Diskriminierten über die Anwesenheit von Rassismus entscheidet. Es gab und gibt zahllose Beispiele, bei denen Diskriminierte sich überhaupt nicht des Rassismus, mit dem sie belegt werden, bewusst sind. Sklavenhalter argumentierten in der Vergangenheit so. Manche in Leibeigenschaft Hineingeborene schienen – auch laut eigener Aussagen – sehr glücklich mit ihrem Los zu sein. Es ist natürlich unsinnig diese Haltung als Verteidigung für Diskriminierung heranzuziehen, da sie in ihren Grundzügen Ungleichheit propagiert. Ebenso verhält es sich mit dem unterbewussten (subliminalen) Rassismus. Dies sind unterschwellige, rassistische Tendenzen und Verhaltensmuster, die auch bei aufgeklärten Menschen vorkommen und auf gesellschaftlich eingeübter und tradierter Ungleichheit beruhen. (siehe: Arthur J. Graham, Southern Renaissance/Subliminal Omni Ciphers & the Autotelic Structure of the Land and Slave Kingdom of God) Beispielsweise: Mein Vater fühlte sich sicherlich nicht als Rassist. Dennoch hatte er Probleme, als ich ihm erzählte, dass meine Freundin und spätere (erste) Frau teils indonesischer Abstammung war. Ich glaube, er war über seine Reaktion ebenso erschrocken wie ich. Als er meine Liebste dann jedoch kennen lernte, schloss er sie in sein Herz und liebte sie wie eine eigene Tochter. Die Generation meines Vaters hatte außer einer Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus auch noch den Nachteil der Ungeübtheit in der Begegnung mit Fremden. Dies spielt auch heute noch eine Rolle. Die meisten Bürger der ehemaligen DDR – sofern sie nicht in Berlin leben – kamen bisher wesentlich seltener mit Menschen nicht-europäischer Herkunft in Berührung als Einwohner der alten Bundesländer.
In meiner eigenen Familie gibt es mehrere kulturelle „Mischehen“, afrikanisch mit europäisch, asiatisch mit europäisch, nahöstlich mit europäisch. Ich kenne die Rassenfrage von vielen Seiten. Das Interessante ist, dass sie in allen Herkunftsbereichen existiert. Fast jedes Volk fühlt sich in seinem unreflektierten Selbstbild gegenüber anderen Völkern überlegen. Je geringer zudem das Selbstbewusstsein einer spezifischen Gruppe oder eines Individuums ist, umso schneller müssen andere dafür herhalten, das eigene Selbstwertgefühl aufzumöbeln. Wenn man den Fremden zum Minderwertigen degradiert, ist man in der Hackordnung der gesellschaftlichen Werteskala zumindest relativ aufgestiegen. Dieser Prozess vollzieht sich unbewusst. Er kann bei gebildeten Menschen ebenso auftreten wie bei weniger begabten. Im Rassismus wird das eigene Gefühl des Unvermögens auf den Andersartigen projiziert, wodurch die Last der eigenen Minderwertigkeit scheinbar leichter wird.
Unsere Gesellschaft mit ihren neoliberalen Auswüchsen ist ein ausgezeichneter Nährboden für solche Tendenzen. Mittlerweile ist die einzige Art und Weise, gesellschaftlichen Status zu erlangen, die Demonstration finanzieller Liquidität. Ob diese nun wirklich auf Besitz oder aber auf Kredit beruht … ob dieses Geld erschwindelt oder tatsächlich erwirtschaftet wurde, spielt hierbei überhaupt keine Rolle. Anderer, sogenannter ‚innerer‘ Reichtum macht uns im wirtschaftsfaschistischen Regelwerk unserer Zeit zu Verlierern. Dass der Begriff ‚Gutmensch‘ – also ‚guter Mensch‘ (!) – zu einem Schimpfwort wurde, ist eines von vielen Zeichen für die Pervertierung unseres Wertesystems. Die Welt scheint in Gewinner und Verlierer aufgeteilt zu sein, wobei ehrenhafte Menschen ganz klar zu den ‚Losern‘ gehören. Das Leid, welches dadurch bei den Erfolgloseren erzeugt wird, ist nur schwer nachvollziehbar, wenn man es nicht selbst erlebt hat. In ihrer hilflosen Wut wenden sich diese Leute dann gegen das momentan noch schwächere Glied: die Flüchtlinge, die Asylsucher, die Fremden.
Es ist sehr leicht, sich angesichts rassistischer Äußerungen auf einen elitären Thron zu setzen und mit Satire oder auch mit direkter, verbaler Aggression zur reagieren. Damit polarisiert man jedoch nur. Niemandem ist damit gedient. Mit solchen Reaktionen ist man nicht besser als der Rassist, da man diesen in eine Ecke drängt und quasi zum Gegenschlag auffordert. Diese moralische Selbstgerechtigkeit der Pseudo-Toleranz führt letztendlich nur zu Verhärtung und Eskalation.
Um Rassismus abzubauen, müssen wir die Rassisten aus ihrer Underdog-Position befreien. Der Weg, auf dem dies möglich wird, ist Wertschätzung. Ein Mensch, der geschätzt wird, entwickelt Selbstbewusstsein. Das neuerlangte Selbstwertgefühl kann sich unter anderem durch Hilfsbereitschaft stärken. An dieser Stelle kann sich das Blatt wenden. Rassismus ist meist durch Angst erzeugte Aggression. Ein starkes Selbstbewusstsein macht angstfrei. Anstelle von Hilflosigkeit tritt innere Kraft. Und auf einmal werden aus ‚Losern‘ Menschen, die etwas zu bieten haben; vielleicht sogar Unterstützung für Bedürftigere.
Dies ist nicht nur ein psychologisches Phänomen, das sich in den Wohnzimmern des Eso-Bürgertums abspielt. Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Wir alle, die wir nicht unter einem Mangel an Anerkennung und Selbstsicherheit leiden, sind gefragt, den emotional Vernachlässigten unserer Gesellschaft Mitgefühl entgegenzubringen. Eben genau das Mitgefühl, das diesen in der Begegnung mit ‚Fremden‘ fehlt.
Auch hier zeigt sich wieder die primäre Wirkungsweise der Menschlichkeit: Behandle andere so, wie du selbst behandelt werden willst! Bringe das in Umlauf, was Du in der Handlungsweise anderer vermisst, nicht nur dir selbst sondern auch dritten gegenüber. Konfrontation erzeugt Aggression, das Bemühen um Verständnis gebiert Harmonie.
Daher ist Empathie gefragt, Gefühl für Andersartigkeit, Akzeptanz auch dem gegenüber, das wir zunächst nicht verstehen. Denn natürlich gibt es Unterschiede. Doch die gibt es auch zwischen mir und vielen Menschen mit gleicher Hautfarbe. Und das ist auch gut so! Aufgrund dieser Vielfalt ist unsere Welt ein farbenfrohes Kaleidoskop von Erfindungen, Orten, Einstellungen, Herangehensweisen und Lebensarten … zum Glück, denn unsere Zeit stellt uns vor große Herausforderungen, die wir nur im Miteinander vieler, unterschiedlicher Menschen und Ideen bewältigen können.