Die innere Frau (Anima) – das Herzstück des tantrischen Mannes

In der tantrischen Tradition sagt man, dass ein Mann erst eine Frau werden muss, bevor er Tantriker werden kann. Dies hat nur sehr bedingt mit der heutigen Transgender-Diskussion zu tun. Es bedeutet viel mehr, dass das Weibliche in der Welt die Aufgabe des Werdens hat, also der Kreation des Lebens. Diese enorme Energie, die Leben hervorbringen kann, macht man sich im Tantra zunutze, um sie für (grösstenteils) spirituelle Zwecke einzusetzen. Das Männliche in der Schöpfung hat nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu dieser Energie. Doch das, was dem Männlichen gegeben ist, sollte es auch nutzen!

Psychologisch wie emotional geht es hier um den inneren, gegengeschlechtlichen Komplex. Im folgenden bleibe ich nur bei den männlichen Ausformungen dieser Thematik. Ich befasse mich also mit dem Mannsein und der Wichtigkeit, die innere Frau, respektive die Anima, zu erkennen und in die Psyche zu integrieren. Hierdurch werden Männer emotional tragfähiger, können Gefühle zulassen und aushalten, ohne diese unreflektiert, reaktiv ausagieren zu müssen. Dies macht sie im Umkehrschluss für ihre Umgebung (insbesondere für Frauen) vertrauenswürdiger und attraktiver.

Die innere Frau zeigt sich am deutlichsten in dem Phänomen der Verliebtheit. (Hiermit meine ich nicht „Liebe“!) Im Zustand der Verliebtheit projiziert man seinen inneren weiblichen Teil, zu dem wir meist keinerlei Kontakt haben, auf eine externe Person, meist eine Frau. Hierdurch macht sich die unterdrückte Anima sichtbar, da sie sich nach Akzeptanz und Erkannt-Werden sehnt. Dies geschieht meist zyklisch, wobei die Abstände zwischen diesen Externalisierungen mit zunehmendem Alter länger werden.

Bei dem Prozess der Verliebtheit spielt die Erotik, die sexuelle Begierde meist eine grosse Rolle. Der verliebte Mann hat keinen bewussten Zugang zu seiner inneren Frau. Daher ist der Prozess des Sich-Verliebens ein unbewusster. Es müssen dafür zwei Voraussetzungen erfüllt sein:

Zum ersten entsteht  durch das Ignorieren dieses gegengeschlechtlichen Anteils ein innerer Druck, der die Person zwingt, irgendwie darauf zu reagieren. Das Weibliche will gesehen werden – generell, nicht nur in Bezug auf die Anima. Etwas in uns will erkannt werden. Man ist also auf eine gewisse Weise „reif“, um der inneren Frau zu begegnen.

Zum zweiten: Etwas im Gegenüber – also bei der Frau, in die man sich verliebt – muss mit der eigenen inneren Frau mitschwingen. In manchen Fällen – wenn auch sehr selten – ist dies am Ende genug, dass wirkliche Liebe entstehen kann. 

Wenn wir uns verlieben, dann sind wir auf einer unbewussten Suche nach uns selbst. Wir sehnen uns nach Kontakt mit dem Teil unserer Psyche, den wir ständig sträflich vernachlässigen. Meist gibt es aber auch Gründe, aus denen man der inneren Frau lieber nicht begegnen will. Die Anima unterteilt sich in einen Licht- und einen Schattenanteil. Der helle Teil ist oft sehr überhöht, sodass er fast nicht von einer realen Frau erreicht werden kann. Daher rührt die Enttäuschung, die man fühlt, wenn man sich wieder „ent“liebt. Der Schatten ist schwieriger. Er macht uns Angst, erfüllt uns oft mit Scham und raubt uns den Mut, uns ihr zu stellen. Ohne hier zu tief in Psychologisches eintauchen zu wollen, kann man davon ausgehen, dass die Bildung der Anima fast immer mit der eigenen Mutter und mit der Art unserer Beziehung zu ihr zusammenhängt. Oft spielen hierbei auch (meist ältere) Schwestern, Nachbarinnen oder andere weibliche Familienmitglieder aus der Kindheit eine Rolle. 

Im Tantra stellt sich der Mann diesen nicht integrierten, weiblichen Anteilen. Die tantrische Mythologie ist voller Geschichten vom Kampf der Helden oder Gottheiten mit weiblichen Dämonen. Je mehr diese dann „getötet“ werden umso weniger erfolgreich ist der Protagonist. Begegnet er jedoch der Weiblichkeit mit Verehrung, dann erfährt er die Gnade höherer Ebenen der Bewusstheit.

Die Geschichte von Hanumans Heirat bzw. seiner Verlobung mit der Tochter der Sonne, deren Glanz jeden Mann blenden würde, ist en typisches Beispiel der Integration des Weiblichen in die eigene Persönlichkeit. Hanumans Guru war der Sonnengott, Surya Dev. Am Ende der Lehrzeit gibt der Schüler seinem Lehrer traditionell eine Bezahlung. 

Hanuman fragte am Ende seiner Lehrzeit also Surya Dev: „Surya, jetzt, wo meine Ausbildung beendet ist, muss ich Dir Guru Dakshina anbieten. Was kann ich dir geben?“ Die Sonne sagte: „Es hat gereicht, dir beim Lernen zuzusehen.“ Hanuman sagte: „Nein, das genügt nicht. Ich muss dir etwas bezahlen.“ Surya überlegte und entschied sich dann für eine sehr interessante Lösung, mit der Hanuman ihm dienen sollte. Wie fast alle hinduistischen Gottheiten ist auch Surya verheiratet, weil im Hinduismus die Götter als männlich-weibliche Paare agieren, als Shiva-Bewusstsein und Shakti-Energie. Surya war jedoch für seine Frau zu hell. Sie konnte Ihren Ehemann nicht einmal ansehen, weil er ja die Sonne ist.  Sie hatte ihn seit Jahrhunderten gebeten, sein Licht auszuschalten, damit sie besser mit ihm umgehen konnte. Die Götter waren sich also einig, dass sie Surya ein wenig Leuchtkraft wegnehmen sollten. Als sie einen Teil des Strahlens von der Sonne abzogen, entstand daraus eine sehr schöne Frau, Suvarchala, die Tochter der Sonne. Doch auch sie hatte das Problem, dass niemand ihrer Helligkeit begegnen konnte, so intensiv war diese. Surya konnte also keinen geeigneten Mann für sie finden; keinen ausser Hanuman, der ja als Schüler der Sonne mit diesem hellen Glanz umgehen kann. So sagte Surya zu Hanuman: „Nimm meine Tochter als deine Frau.“  Mit anderen Worten: „Nimm mein Licht zu deiner Ehepartnerin.“ Hanuman entgegnete: „Wie kann ich eine Frau nehmen? Ich wurde mit dem Lendenschurz eines Brahmachari (ein Mensch, der im Zölibat lebt) geboren und muss meine Keuschheit bewahren, ein Leben in sexueller Reinheit führen.“ Surya antwortete: „Du kannst sie heiraten, weil du den Lehren folgen wirst, die ich dir gegeben habe. Eine solche Ehe wird deine Keuschheit nicht brechen.“

In dieser Geschichte gibt es ein paar sehr interessante Punkte:

Zunächst sind Suryas Worte „Nimm meine Tochter als Deine Frau“ so zu verstehen, dass er fordert, Hanuman solle diese Form extrem mächtiger Weiblichkeit in seine Persönlichkeit integrieren. Der Guru ist hier ein Synonym für das höhere Selbst, der Schüler ist die Persönlichkeit und die Tochter des Lehrers ist die Anima. In diesem Fall sind Schattenseite und Lichtseite identisch. Der Schatten Suvarchalas ist quasi ihre Eigenschaft, alle mit ihrer Helligkeit zu blenden. Ihre Lichtseite ist die Erkenntnis schlechthin, die sie als das Strahlen der Sonne verkörpert.

„Erkenntnis ist das Strahlen der Sonne des Bewusstseins.“

Die Erblindung, die das Blenden durch die Helligkeit verursacht, wird also umgangen, indem das Strahlen integriert wird. Dadurch entsteht verinnerlichte Erkenntnis, eine Frucht der Sonne des Bewusstseins. 

Die Aussage „Du kannst Suvarchala heiraten, weil du den Lehren folgen wirst, die ich dir gegeben habe. Eine solche Ehe wird deine Keuschheit nicht brechen.“ ist ein Hinweis auf das, was man tantrisches Brahmachaya nennt: das Zurückhalten des Spermas beim Sex. Wer dies beherrscht bleibt Brahmachari und hat gleichzeitig jede Freiheit.

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf den Zustand der Verliebtheit zurückkommen. In früheren Zeiten passierte das Menschen nicht so oft wie heute. Dies hat mit dem Phänomen der romantischen Liebe zu tun, auf das ich an anderer Stelle zurückkommen werde. Wenn sich jedoch jemand verliebte, dann wurde dies noch im Mittelalter vom Arzt als Krankheit behandelt! Es ist also kein gesunder Prozess, sich zu verlieben! Darüber hinaus ist Verliebtheit eine Art des emotionalen Missbrauchs. Man hilft jemandem anderen etwas über, was nichts mit dieser Person zu tun hat. So lange dieser Zustand auf Gegenseitigkeit beruht, ist das auch irgendwie „ok. Doch alle kennen das unangenehme Gefühl, wenn sich jemand in uns verliebt, wir dies aber nicht erwidern können. Man hat dann emotionalen Zugang zu den intimsten Gefühlen des verliebten Menschen, ohne sich jedoch hierfür entschieden zu haben. Man ist irgendwie Teil einer Veranstaltung, der man nicht zugestimmt hat.

Ein im tantrischen Sinne emotional erwachsener Mann hat seine innere Frau integriert. Wie schon zuvor gesagt, hat der Mann dadurch mehr mehr Zugriff auf seine Gefühle. Er erlebt eine tiefere Emotionalität. Gleichzeitig hat er gewisser Massen eine grössere Kontrolle über seine Gefühle. Unter Kontrolle ist nicht Verdrängung bzw. Nicht-Fühlen zu verstehen. Im Gegenteil: Die Gefühle werden viel intensiver wahrgenommen, da sie integriert stattfinden. Gleichzeitig hat man einen grösseren Abstand zu diesen. Sie beherrschen uns nicht wie eine von aussen kommende Macht (als welche z.B. Verliebtheit oft wahrgenommen wird), sondern wir nehmen sie als etwas wahr, das aus uns selbst entsteht, dem wir jedoch nicht ausgeliefert sind. Wir identifizieren uns nicht mehr mit unseren Gefühlen, da wir uns als deren Schöpfer erfahren.

„Ich habe Gefühle, aber ich bin nicht meine Gefühle.“

oder

„Gefühle sind die Wellen auf dem Meer der Energie.“

Der Alltag als Ashram

Meine erste tantrische Übung machte ich 1986. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich schon bei verschiedenen spirituellen Traditionen umgeschaut und war dann beim westlichen Sufismus „hängen geblieben“. Ich lebte damals in Amsterdam und hatte keinerlei Motivation irgendeine spirituelle Praxis selbst als Lehrer beruflich auszuüben. Im Gegenteil: Der Sufismus sprach mich unter anderem deshalb an, weil er mit einer privaten Struktur von Guides arbeitete, die ihre Schüler*innen unentgeltlich betreuten, Meditationsklassen leiteten und Universelle Gottesdienste organisierten. Nur einige wenige, die viel Zeit mit der Ausbildung der Guides verbrachten, erhielten dafür eine minimale Entschädigung. Diese Spiritualität im privaten Rahmen – also im Alltag – sprach mich sehr an.

Auf Tantra stiess ich dadurch, dass der Sufismus zu einer wichtigen Alltagsangelegenheit, die ich als zutiefst spirituell empfand, kein Angebot machte: zur Sexualität. Ich las damals immer wieder über die tantrischen Traditionen und hatte auch bald eine spezifische Ausrichtung des Tantras gefunden, nämlich die hinduistische Shakta, bei der die weiblichen Gottheiten zentral stehen. Im Gegensatz zu beispielsweise dem tibetisch-buddhistischen Tantra fand diese weniger in der Abgeschiedenheit eines Klosters oder Ashrams statt, sondern im Alltag. Dies war mein Hauptkriterium. Es sollte alltagstauglich sein.

In den 80ern kamen viele meiner Freunde und Bekannten aus Poona bzw. Oregon zurück und kleideten sich in den Farben der aufgehenden Sonne – von gelb-orange bis tiefrot. Ich war zunächst an diesen Sanyasins und ihrem Meister Rajneesh (Osho) sehr interessiert, vor allem auch weil sie Tantra im Gepäck hatten. Doch bald wurde klar, dass dieses Tantra starke sexualtherapeutische Züge hatte, die nicht als Alltagspraxis taugten.

In den nächsten 20 Jahren suchte ich also ausserhalb der neotantrischen Szene und fand einiges, was ich aus heutiger Sicht wirklich erstaunlich finde. Zum Beispiel lernte ich über verschiedene Annoncen, die ich in einschlägige Printmedien setzte, Jochen kennen, der Tantra von einer Angestellten des indischen Konsulats in Bonn und  bei einem Neurologen – auch ein Inder – , der an der Uniklinik in Heidelberg tätig war, gelernt hatte. Jochen war damals schon weit über fünfzig und ich und meine Freundin um die dreissig. Es war eine sehr inspirierende Begegnung, die viele Jahre überdauerte. Jochen gab mir eine Art Ariadnefaden in die Hand, mit dem ich über die Jahre hinweg immer wieder Tantriker*innen auf der ganzen Welt kennenlernte. Auch er war ein Alltags-Tantriker.

Ich lernte im Laufe der Jahre traditionelle Tantriker*innen verschiedenster Couleur kennen … Künstler (wie ich selbst), Politiker, Handwerker, Beamte. Ich hörte von Tantriker*innen bei der indischen Armee, bei der Polizei und an Universitäten. All diese Leute gaben ihr Wissen weiter. Privat und ohne finanzielle Interessen. Es ging um die Sache. Natürlich hat dies alles seine Grenzen. Als ich z.B. Madhu Khanna, die jahrelange Assistentin von Ajit Mookerjee, in Delhi kennenlernte, war klar, dass sie als Indologin natürlich auch Geld mit ihrer tantrischen Forschung verdienen musste. Ich kaufte ein dickes, völlig überteuertes Buch von ihr. Doch das war es mir auch wert. 

Ich verbrachte 2001 mehrere Monate in einem Ashram in Rishikesh, wo Tantra-Yoga unterrichtet wurde. Ich habe dort sehr viel gelernt und erhielt von dem dortigen Swami Einweihungsbefugnis in verschiedene tantrische Techniken. Doch das meiste, was dort in vielen Stunden jeden Tag gelehrt und praktiziert wurde, konnte ich in meinem täglichen Leben nicht aufrecht erhalten. Eines wurde mir in dem Ashram jedoch klar: Man benötigt keine bestimmte Umgebung, kein spezielles Setting, keinen exklusiven Ort, keine wiederkehrende Zeit, um Tantra zu praktizieren. Tantra kann überall stattfinden, bei jeder Beschäftigung … bei der Arbeit, in der Beziehung, beim Betreuen der Kinder, beim Kochen, ja sogar im Schlaf kann (und sollte) man Tantra praktizieren.

Ich bin Vater von fünf Kindern, habe eine wunderbare Karriere als Tänzer und Choreograph hinter mir und bin mittlerweile viel zuhause, da meine Partnerin für ihre Arbeit viel unterwegs ist und ich mich daher oft um meine beiden jüngsten kümmere. Die tantrische Praxis, die ja bei weitem nicht nur erotisch ausgerichtet ist, hatte bisher in jedem Lebensentwurf Platz. Mit meinen Tänzer*innen meditierte ich und praktizierte mit ihnen Yoga. Meine Kinder baten uns während der Lockdowns um eine tägliche Familienmeditation. Die Mantras suchten sie selbst heraus. Als Kleinkinder waren sie auf mir herumgekrabbelt, während ich in Yogahaltungen verharrte. Und natürlich spielt die tantrische Sexualität eine grosse Rolle in meinem und den Leben meiner Partnerinnen, mehr oder weniger ritualisiert, als Meditationen in Vereinigung, als Heil-Sex bei Krankheiten, als Abstandsrituale per Zoom, wenn man sich nicht persönlich treffen kann, als tantrisches Brahmacharya (Ejakulationskontrolle), wodurch ich in meiner Beziehung die Verhütung in der Hand habe.

Tantra entstand nach dem heutigen Forschungsstand in den matriarchalen Kulturen Asiens, vor allem Indiens. Im indischen Matriarchat gab es keine Priesterkaste. Diese wurde erst von den arischen Invasoren, die aus Osteuropa kamen, vor etwa 3500 Jahren dort installiert. Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis, dass im Patriarchat die Männer und im Matriarchat die Frauen das Sagen hätten. Der Unterschied zwischen beiden ist der, dass das Patriarchat eine meist grossflächige Herrschaftsstruktur mit einem steilen hierarchischen Gefälle ist, während Matriarchate regional, anarchisch-demokratisch in flachen Hierarchien organisiert sind. Tantra entstand in einer Umgebung, in der es keine Spezialisierung im religiös-spirituellen Bereich gab. Alle, die lange genug Tantra praktizierten, waren irgendwann Lehrer, und zwar neben Familie und Beruf.

Dies hielt sich noch sehr lange. Als 2500 Jahre später im indischen Mittelalter die Bön-Lamas aus Tibet kamen, um den Buddhismus zu erlernen, wurden sie in tantrischen Familien aufgenommen und erlernten meist das Handwerk, welches dort ausgeübt wurde. Nebenbei wurde ihnen der tantrische Buddhismus beigebracht. Oft waren die Gurus Frauen. Da der Buddhismus – wie auch das Tantra – das Kastensystem ablehnte, war die Verschmelzung beider ganz natürlich. Spiritualität, Lehre, Erleuchtung und Befreiung waren Alltagsangelegenheiten.

Mittlerweile habe ich mich voll und ganz dem Unterrichten traditioneller, tantrischer Lehren zugewandt. Dabei ist es für mich ausserordentlich wichtig, meinen Schüler*innen die Möglichkeit zu bieten,  alle Aspekte ihres Lebens zu einer tantrischen Übung machen. Wenn ich also auf die Frage, ob man sein Klo tantrisch putzen kann, eine Antwort geben müsste, würde ich sagen: „Ich kenne keine andere Art und Weise.“

Dieser Artikel erschien erstmals am 17. Oktober 2022 in tantranetz.de.

Die Sternenfrau


In Afrika lebte vor langer Zeit einmal ein Jäger. Dieser Jäger war der beste Jäger von ganz Afrika. Die jungen Frauen wollten ihn natürlich alle zum Mann haben, da ein guter Jäger immer dafür sorgte, dass genug Fleisch auf dem Tisch war. Doch der Jäger zögerte mit der Eheschliessung. Er dachte bei sich: „Ich bin der beste Jäger von ganz Afrika! Da kann ich nicht irgendeine Frau heiraten. Es muss eine ganz besondere Frau sein!“ Er sinnierte viel und andauernd über seine zukünftige Frau. So spazierte er eines Abends wieder einmal durch die Steppe und dachte darüber nach, wie er wohl eine geeignete Frau finden könnte. Plötzlich sah er, wie ein Stück von ihm entfernt eine Leiter vom Himmel herab gelassen wurde. An dieser Leiter stiegen zehn schöne, junge Frauen herab und schauten sich vorsichtig um. Der Jäger versteckte sich schnell hinter einem Busch. Er war ein wirklich guter Jäger und konnte sich daher hervorragend verstecken. Die jungen Frauen sahen ihn nicht. Zufrieden kehrten sie zur Leiter zurück und winkten nach oben. Daraufhin stieg eine noch schönere Frau herab. Dies war die Sternenfrau. Die jungen Frauen begannen in der Steppe zu spielen und zu lachen, sie scherzten miteinander und hatten eine gute Zeit. Nach etwa einer Stunde gingen sie wieder zur Leiter und stiegen hinauf.

Als die Frauen wieder verschwunden waren, kam der Jäger wieder zu sich. Er war wie verzaubert gewesen und hatte gebannt das Spiel der Frauen – besonders die Sternenfrau – beobachtet. Jetzt stand er auf, sah zum nächtlichen Himmel empor und sagte: „Diese Frau werde ich heiraten. Die Sternenfrau ist die richtige. Sie ist eine angemessene Ehefrau für den besten Jäger von ganz Afrika!“

Am nächsten Abend ging er wieder an die gleiche Stelle in der Steppe. Wieder stiegen die Frauen von der Himmelsleiter herab und schauten sich um. Da sie dachten, dass die Luft rein war, winkten sie die Sternenfrau herunter. Als die Sternenfrau auf dem Boden angekommen war, sprang der Jäger mit einem Satz in die Mitte der Frauen, stellte sich vor die Sternenfrau und rief: „Ich bin der beste Jäger von ganz Afrika und möchte Dich zur Frau nehmen.“ Ihre Begleiterinnen waren alle total erschrocken. Nur die Sternenfrau selbst blieb völlig ruhig. Sie schaute den Jäger von oben bis unten an, ging einmal langsam um ihn herum und betrachtete ihn von allen Seiten. Dann sagte sie zu ihm: „Hmmmm. Bester Jäger von ganz Afrika? Gut! Ich werde Deinen Antrag annehmen. Komm’ morgen um die gleiche Zeit wieder an diese Stelle, dann komme ich mit Dir in Deine Hütte.“ Kaum hatte sie dies gesagt, stieg sie wieder die Leiter empor. Die anderen jungen Frauen folgten ihr nacheinander und schauten den Jäger dabei verschämt kichernd an.

Am nächsten Tag kam der Jäger wieder zur gleichen Stelle. Pünktlich kam die Leiter wieder vom Himmel herunter und die Frauen stiegen an ihr herab. Als letzte erschien die Sternenfrau. Sie hatte einen Korb mit einem Deckel unter dem Arm. Sie stellte sich vor den Jäger und sagte zu ihm: „Gut, bester Jäger von ganz Afrika … ich komme mit dir in Deine Hütte, werde das Lager mit Dir teilen, die Felder bestellen, unsere Kinder gebären und die Ernte einbringen. Alles was eine gute Ehefrau tut, werde ich erledigen. Ich habe nur eine einzige Bedingung: Siehst Du diesen Korb hier? Diesen bringe ich mit in unsere Hütte. Doch du darfst niemals hineinsehen. Hast du das verstanden?“ Der Jäger fand, dass dies keine schwere Bedingung war und willigte ein. Die Sternenfrau folgte ihm in seine Hütte und lebte von da an mit ihm zusammen.

Eine Frau pflügt das Feld, säht, umsorgt die Pflanzen, hält das Gemüse und das Korn von Schädlingen frei, erntet, wenn alles reif ist, mahlt den Weizen zu Mehl und backt und kocht. Das ist sehr viel Arbeit. Jeden Tag. Woche für Woche. Monat für Monat. 

Ein Jäger zieht immer dann, wenn es nötig ist, hinaus in die Steppe, pirscht sich an das Wild heran und wirft den Speer oder schiesst den Pfeil mit dem Bogen ab. Er nimmt die Beute aus, zerlegt das Tier, zieht das Fell ab und gerbt es. Er bringt das Fleisch nach hause und seine Frau kocht es dann.

Alles in allem hat eine Frau viel mehr Arbeit als ein Jäger. Vor allem ein guter Jäger, der grosse Tiere mit Leichtigkeit erlegt, hat zwischen seinen Jagdzügen viel Zeit, während seine Frau den ganzen Tag auf dem Feld ist und dort arbeitet.

So ging es auch dem besten Jäger von ganz Afrika.

Eines Tages sass er in seiner Hütte und rauchte Pfeife. Er langweilte sich. Fleisch war noch genug da. Er brauchte einige Zeit nicht auf die Jagd zu gehen. Seine Frau war auf dem Feld und arbeitete dort. Vor dem Abend würde sie nicht nach hause kommen. Er schaute sich in seiner Hütte um, auf der Suche nach etwas, was ihm die Zeit vertreiben könnte. Da fiel ihm der Korb seiner Frau auf, der in einer Ecke stand. Er wusste, dass er nicht hineinschauen sollte. Doch Neugier und Langeweile bemächtigten sich seiner Vernunft. Er sagte zu sich selbst: „Warum soll ich nicht in diesen alten Korb hineinschauen dürfen? Er gehört meiner Frau! Er steht in meiner Hütte. Also ist es letztendlich auch mein Korb … und ich kann hineinschauen, wann immer ich will!“ Er stand also auf, ging zu dem Korb in der Ecke, hob den Deckel ab und schaute hinein. Da begann er zu lachen und zu lachen und lachte immer weiter. Eine halbe Stunde später aber hatte er den Zwischenfall schon fast wieder vergessen.

Am Abend kam seine Frau wieder vom Feld zurück, nach hause. Sie schaute sich in der Hütte um und sagte zu ihrem Mann: „Du hast in den Korb geschaut!“ Er antwortete: „Na und! Da ist ja sowieso nichts drin!“ Da entgegnete sie: „Jetzt muss ich gehen. Aber nicht, weil du hineingeschaut hast … sondern weil du nicht sehen konntest, was drin ist.“ Und sie verliess ihn und kam nie mehr wieder.

nacherzählt von Johannes Ganesh

Die Pfeilmacherin

 

Die Gefährtin des Mahasiddhas Saraha

Der Mahasiddha Saraha lebte wahrscheinlich im Indien des 8. Jahrhunderts. Die Lehre Buddhas verbreitete sich damals zwar immer mehr, doch die Gesellschaft war dennoch vom hinduistischen Kastensystem geprägt. Obwohl der Buddhismus Unterschiede durch Herkunft ablehnt, setzte sich dieser Aspekt der Lehre Buddhas in Indien niemals durch. Es wurde von der damaligen Gesellschaft erwartet, dass man nur innerhalb der eigenen Kaste Kontakte pflegte. So erging es auch einem Mädchen, das als Tochter eines Pfeilmachers in einer unteren Kaste aufwuchs. „Die Pfeilmacherin“ weiterlesen

Unterhaltung mit einer professionellen Domina

Um zu diesem Thema nicht nur meine Meinung kund zu tun, sondern auch den Standpunkt des SM zu Wort kommen zu lassen, führte ich über mehrere Wochen ein Email-Gespräch mit einer Freundin, die sich damit auskennt. Hier das Ergebnis:

 

Johannes Ganesh:
Hallo Lin, wir kennen uns schon viele Jahre, arbeiteten zusammen am Theater und praktizierten Tantra miteinander. Nach Deiner künstlerischen Karriere hast Du 12 Jahre als Domina gearbeitet, eine Familie gegründet und ein naturwissenschaftliches Studium absolviert. Vor einigen Jahren hast Du mir einmal gesagt, dass die tantrische Praxis Dir beim Umgang mit der Energie während Deiner Arbeit als Domina geholfen hätte. Könntest Du das näher beschreiben?

Lin:
Als professionelle Domina bin ich innerhalb klarer Grenzen auf die individuellen Bedürfnisse meiner Gäste eingegangen, insofern ist der Begriff ‚dominant‘ irreführend. Meine Hingabe galt deren tiefer Sehnsucht, mit ihren Neigungen und Geheimnissen angenommen zu werden. Ich habe sie durch dunkle Gefilde ihrer emotionalen Landschaft geführt und danach aufgefangen. Die Sexualität funktioniert bei solchen Reisen als Transformationsmedium. Die tantrische Erfahrung hat mir dabei geholfen, so mit den emotionalen und sexuellen Energien der Gäste umzugehen, dass sie nicht an mir hängen blieben.

Johannes Ganesh:
Ja, das ist plausibel. Ich habe selbst nur sehr oberflächliche Erfahrungen mit SM. Doch ich stelle mir bzgl. einer Synthese zwischen Tantra und SM, wie sie heutzutage von manchen Seiten propagiert wird, einige Fragen. Eine betrifft die Polarisierung von Shiva und Shakti als göttliches Paar. Trotz der sehr unterschiedlichen Positionen von Mann und Frau im tantrischen Setting begegnen sich beide immer auf Augenhöhe. Die Rollenverteilung von “devot” und “dominant” im SM impliziert jedoch – trotz des prinzipiellen Einverständnisses der Beteiligten – eine Hierarchie. Diese wird im Tantra nicht angestrebt. Wie ist hierzu Deine Haltung?

Lin:
Neben dem Machtgefälle beim BDSM, welches auch gerne so kippt, dass der devote Part den dominanten unterbewusst steuert, sehe ich einen noch wesentlicheren Unterschied: Eine echte SM-Neigung sucht man sich nicht aus, sie entsteht durch eine Prägung. Tantra zu praktizieren beruht auf einer freien Entscheidung.

Johannes Ganesh:
Das ist ein weiterer Punkt, den ich auch angesprochen hätte: Die Freiwilligkeit. Du sprichst hier von emotionalen Prägungen, die durch Traumata entstanden sind. Es gibt im Tantra leider Strömungen, die sich unfreiwilliger Akteure bedienen (ähnlich wie in der schwarzen Magie). Ich spreche vom schwarzen Tantra (im Gegensatz zum roten und weissen Tantra). Obwohl ich diese Pervertierung der tantrischen Methoden nicht mit Sado-Masochismus in einen Topf werfen will, frage ich mich dennoch ob es da Parallelen gibt. Stelle Dir vor, man würde ein BDSM-Setting rituell zum Kanalisieren von Energie benutzen. Gäbe es dann Parallelen zum schwarzen Tantra?

Lin:
Prägungen müssen nicht notwendigerweise Traumata als Ursache haben, es kann z. B. auch ein sehr harmloser Fetisch durch positive Erlebnisse entstehen. In der BDSM Szene ist allgemein der Grundsatz ’safe, sane and consensual‘ Gesetz. Schwarzes Tantra würde dem strikt widersprechen. Jenseits von diesem Grundsatz sind BDSM-Praktiken mindestens so gut geeignet wie konventioneller sexueller Missbrauch, schwarze Magie auszuüben. Es kommt dabei auf die Intensität und Menge von freigesetzten Emotionen, wie Angst, seelischer Schmerz und Machtlosigkeit an. Mancher würde z. B. ein aufgezwungenes Spanking besser wegstecken als eine Vergewaltigung.

Johannes Ganesh:
Es gibt eine Sache, die ich von devoten Frauen immer wieder höre. Ich hoffe, Du kannst dies beantworten, obwohl Du ja in der dominanten Rolle agiert hast. Gerade eben wieder habe ich mit einer Freundin gesprochen, die sagte, sie könne sich erst richtig hingeben, wenn sie die Kontrolle abgegeben habe. Im Tantra ist der Grad der Hingabe essentiell. Die Frau wird zu Shakti und so zur reinen Energie, der Mann zu Shiva, wobei er das Bewusstsein verkörpert. Doch diese Hingabe impliziert zu jedem Zeitpunkt absolute Kontrolle über sich selbst. Tantrisch gesehen gibt nur die Person ihre Kontrolle auf, die ansonsten nicht wirklich zu Hingabe fähig ist. Ist nach Deiner Meinung die Hingabe im SM mit der im Tantra vergleichbar oder sind das zwei völlig verschiedene Dinge?

Lin:
Mit ausgesuchten Liebhabern habe ich auch Erfahrung als passive Partnerin gesammelt. Hingabe ist für mich ganz klar abzugrenzen von Selbstaufgabe. Wenn ich mich hingebe, dann als Ganzes. Auch in diesem Zustand kann ich die Verantwortung für mich übernehmen, da mein Bewusstsein mit den Gefühlen und Energien, die ich fließen lasse, in Verbindung steht. Kontrolle komplett abzugeben ist für mich eine andere Sache. Den Unterschied kennenzulernen hat jedoch eine Weile gedauert, Meditation hat mir dabei geholfen.

Johannes Ganesh:
Zum Schluss habe ich noch die Frage, wie Du privat zu all dem stehst. Käme für Dich eine Verbindung von Tantra und BDSM in Frage?

Lin:
Hierzu möchte ich ein Zitat aus Hagakure („Der Weg des Samurai“) erwähnen: „Es ist schlecht, wenn eine Sache zu zweien wird. Man sollte auf dem Weg des Samurai nicht nach etwas anderem suchen. Das gilt für alles, was man Weg nennt. Wenn jemand die Dinge auf diese Weise versteht, sollte er von allen (anderen) Wegen hören können und sich dadurch dem eigenen immer mehr zuwenden.“ Was ich damit meine: So sehr ich BDSM schätze, würde ich die beiden Themen getrennt halten. Für mich war es essentiell wichtig, meine toten Punkte zu überwinden, um meinen Prägungen, welche meinen BDSM-Neigungen zugrunde liegen, nicht mehr ausgeliefert zu sein. Sie sind immer noch da, ich kann sie nach Wunsch genießen oder sein lassen. Das ist meine Freiheit. Ich sehe bei einer Verknüpfung von BDSM und Tantra die Gefahr, Prägungen als Öffner für sexuelle Gefühle zu verstärken und andere potentielle Zugänge zu Intimität zuzubauen. Das ist etwas, was ich sogar im BDSM zu vermeiden versucht habe.

Johannes Ganesh:
Ich hatte, als ich Dich um dieses Email-Gespräch bat, eigentlich mehr Dissens erwartet. Doch ich gehe in allem mit Dir mit. Auch ich glaube, dass Sadomasochismus als Forschungsgebiet, um der eigenen Sexualität auf den Grund zu gehen, durchaus relevant sein kann. Als spiritueller Weg, der Tantra für mich ist, taugt BDSM jedoch meines Erachtens nicht … auch nicht in einer Mischform. Ich danke Dir für Deine Mitarbeit an diesem Artikel. Ich denke, er beleuchtet das Thema gut vom traditionellen, tantrischen Weg als auch von der BDSM-Seite aus.

 

Johannes Ganesh Bönig (und Lin)
zuerst veröffentlicht bei Tantra Netz am 10. September 2019
https://www.tantranetz.de/unterhaltung-mit-einer-professionellen-domina

Was darf Tantra kosten?

Dieses Thema ist erst seit kurzem für mich von ökonomischer Relevanz, da ich erst seit etwa zwei Jahren traditionelles (Hindu-)Tantra „öffentlich“ – also in Workshops – unterrichte. Zuvor praktizierte ich Tantra seit 1986 nur für mich selbst mit befreundeten TantrikerInnen und er-wirtschaftete meine Brötchen auf andere Art und Weise. Es liegt nahe, dass ich versuche, das Thema „Geld einnehmen mit Tantra“ in Übereinstimmung mit dem bisherigen „Geld ausgeben für Tantra“ bringen möchte.

Zunächst möchte ich vorausschicken, dass Tantra für mich eine spirituelle Disziplin ist. Ich betrachte es aus der Sicht des traditionellen Tantras weder als Therapie, noch als Erotikschule oder Massagemethode. Dennoch ist es natürlich wahr, dass auch das traditionelle Tantra oft emotional konfrontierend ist, den Schüler unter Umständen erotisch befreit bzw. auch Massage dabei zur Anwendung kommen kann. Als ich mich als junger Mann auf die Suche nach einem spirituellen Weg, einem Meister oder einer Schule machte, kamen die ersten Leute mit orangenen Kleidern von Rajneesh (später: Osho) aus Poona zurück. Ich war misstrauisch. Ich mochte keine Uniformierung, noch schien es mir sinnvoll, viel Geld für Kurse auszugeben, von dem ein indischer Philosophieprofessor sich dann Rolls Royces kauft.

Ich stellte also für meine Suche die Regel auf, kein Geld für spirituelle Unterweisungen zu zahlen. Bis auf wenige Ausnahmen – z.B. wenn ich wirklich unbedingt eine/n LehrerInnen kennen lernen wollte, dies aber nur per Workshop möglich war – bin ich damit auch meist sehr gut gefahren. Eine Ausnahme bildeten Körpertechniken wie Yoga, T’ai Chi oder Massage. Mit dieser privaten Regel bin ich nicht nur im Bereich des traditionellen Tantras immer sehr gut gefahren. Keiner meiner LehrerInnen und Gurus hat jemals Geld von mir eingefordert. Ich gab oft etwas auf Spendenbasis … vor allem in Indien im Ashram.

Man muss nun wissen, dass die ganze Workshopkultur mit Seminarzentren und Jahrestrainings eine Erfindung des 20. Jahrhunderts insbesondere des Westens sind. In der Tradition der indischen Gesellschaft – aber auch anderer asiatischer Länder – gab und gibt es Einrichtungen wie den Gurukul. Dies betraf und betrifft nicht nur die Spiritualität sondern jede Form der Lehre. Wenn man als Schüler akzeptiert wurde, wurde man Teil der Familie des Gurus … und umgekehrt. Es ging dabei nicht um Geld oder Einkommen. Auf der anderen Seite war und ist es selbstverständlich, dass man den Guru existentiell nicht im Regen stehen lässt, was viel weiter geht als „Bezahlung“. Wenn der LehrerInnen oder die LehrerInnen anklopfte, so ließ man ihn/sie herein … ins eigene Haus, in die eigene Familie, ins eigene Leben … und fragte nicht, wann er/sie wie-der geht.

In diesem Sinne erlernte ich Spiritualität in meinem Leben. Ob bei wöchentlichen Meditationsabenden der Sufis, ob bei Besuchen bei meiner LehrerInnen in der Schweiz oder bei Gesprächen mit meinem Meditations-guide in den Niederlanden: Ich habe niemals etwas bezahlt und der Unterricht fand meist in der Privatwohnung der Lehrenden statt. Auch meine LehrerInnen kamen aus dieser Tradition der kostenlosen Unterweisung. Ich kann mich im Gegenteil erinnern, dass einer meiner wichtigen tantrischen Gurus, ein Nath Yogi, bemerkte, dass ich nur wenig Geld hatte und mich deshalb einlud, bei ihm im Vorzelt auf der Mahakumba Mela zu schlafen und mit seiner Bruderschaft kostenfrei zu speisen.

Wie schon zuvor gesagt: Keine/r meiner LehrerInnen lebten vom Unterrichten. Ich bin schon seit vielen Jahren YogaLehrerInnen; zunächst nebenbei und im Laufe der Zeit immer mehr. Auch gebe ich ab und zu Massagen, jedoch keine erotischen. Für diese Tätigkeiten verlange ich ein Honorar. Wir leben nicht in Indien oder in einem anderen asiatischen Land, wo man als Yogi, Mönch, Sadhu oder Derwish quasi Narrenfreiheit hat und von der Gesellschaft irgendwie mitgetragen wird. Daher müssen wir die Spiritualität in unser marktwirtschaftliches System integrieren. Wir können nicht gratis unterrichten, wenn wir dies hauptberuflich oder auch nur zu einem relevanten Teil nebenberuflich tun. Ich habe daher eine Grenze, eine Linie festgelegt in meiner Arbeit als Tantra LehrerInnen.

Es gibt im traditionellen Tantra einen Teil der Lehre, der sich vollständig in der privaten Beziehung zwischen LehrerInnen und Schüler abspielt. Dieser Teil widmet sich der Meditation, der Einweihung in bestimmte Techniken und Methoden, die nicht für einen größeren Kreis bestimmt sind und dort auch keinen Sinn machen würden, sowie dem Erlernen und Praktizieren tantrischer Rituale. Hierfür ist eine persönliche LehrerInnen-Schülerschaft notwendig, die auf Anfrage des/der Schüler beruht. Für diesen Teil erwarte ich von meinen Schülern keine finanzielle Kompensation. Das Commitment, welches dafür nötig ist, ist jedoch enorm.

Es gibt jedoch auch eine Wissensübertragung, die in einem größeren Rahmen stattfinden und theoretisch unterrichtet werden kann. Diese richtet sich auf die praktischen Dinge des Lebens, auf die unterliegende Philosophie und den körperlichen Yoga. Dies unterrichte ich in Kursen, die für alle offen sind und dafür veranschlage einen Preis, den ich so moderat wie möglich halte. Ich versuche in diesen Workshops eine maximale Teilnehmerzahl von 15 Leuten nicht zu über-schreiten, damit ich trotz der Gruppensituation noch individuell auf die Einzelnen eingehen an.

Auf diese Art und Weise glaube ich, die finanzielle Ethik, mit der ich selbst unterrichtet wurde, zeitgemäß zu erhalten. Es gibt jedoch eine einzige Ausnahme: Wenn jemand wirklich lernen will und nicht über die wirtschaftlichen Möglichkeiten verfügt, dann kann er/sie auch zu einem reduzierten Preis oder auch gratis teilnehmen. Ähnliches sehe ich auch bei vielen anderen Tantra LehrerInnen und spirituellen Schulen. Meines Erachtens gibt es kein spirituelles Eigentum, was man verkaufen oder vermarkten könnte. Es gibt nur den Wert der Zeit, in der ich mich als LehrerInnen zur Verfügung stelle. Es stellt sich also lediglich die Frage, wie hoch der Wert meiner Zeit ist.

Johannes Ganesh Bönig
zuerst erschienen bei Tantra-Netz, 10. Juli 2019
https://www.tantranetz.de/was-darf-tantra-kosten

 

Mutabor – die Verwandlung des Bewusstseins im tantrischen Maithuna-Ritual

Mutabor – die Verwandlung des Bewusstseins im tantrischen Maithuna-Ritual.

Kennt Ihr “Die Geschichte von Kalif Storch”? Er schnupfte ein Pulver und verwandelte sich mit dem Zauberwort “Mutabor” (lat.: “Ich möge verändert werden.”) in ein Tier. Als er dann lachte, vergass er das Wort und blieb zunächst ein Storch. Dieses Märchen hat den tiefen Sinn, dass man die Verwandlung des Bewusstseins nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte. Auch im tantrischen Vereinigungsritual hat die “Verwandlung” des menschlichen Paares in das Götterpaar “Shiva und Shakti” ein hohes Gewicht.

Maithuna ist ein Sanskrit-Word (मैथुन) und bedeutet so viel wie „Vereinigung“, „Paar“, „Hochzeit“, „Geschlechtsverkehr“. In der Sanskrit-Literatur bedeutet es meist dreierlei:

  • Die Statuen an tantrischen Tempeln (buddhistisch, jainistisch oder hinduistisch), welche Götterpaare in erotischer Umarmung darstellen.
  • Die symbolische bzw. meditative Durchführung einer überhöhten – also: vergöttlichten – sexuellen Vereinigung.
  • Der tatsächliche, rituelle Geschlechtsverkehr, bei dem beide Partner zusammen die Funktion eines Götterpaares einnehmen.

Was diese drei Bedeutungen gemein haben, ist der Anspruch, dass es sich bei dieser Art der Vereinigung zumindest um eine Annäherung an die Verkörperung des Göttlichen handelt.

Ob im Neo-Tantra oder in den traditionellen tantrischen Richtungen … dies scheint immer das vornehmste Ziel zu sein: Die TeilnehmerInnen des Vereinigungsrituals in einen möglichst gottähnlichen Zustand zu bringen, um mit diesem Ausgangspunkt in einem hohen Bewusstsein und enorm viel Energie überragende Wirkungen zu erzielen. Als solches ist daher das Maithuna Ritual ein klassischer, magischer Akt und unterliegt daher auch allen Gesetzmässigkeiten magischer Handlungen.

Ich kann mich erinnern, dass ich nach einem meiner Meinung nach “völlig abgefahrenen” spirituellen Erlebnis zu meinem Lehrer ging und ihm voller Enthusiasmus davon erzählte. Ich war davon überzeugt, einen durchschlagenden Erfolg in meiner spirituellen Entwicklung gemacht zu haben. Doch mein Meister dämpfte meine Hochstimmung. Er sagte: “Alles was du sagst, sind nur Gefühlswerte. Diese finden in den unteren Chakras statt. Daher solltest du dem Erlebten kein Gewicht beimessen. Du hattest keine hochstehende Erfahrung!” Ich war natürlich sehr enttäuscht. War ich mir doch sicher gewesen, der Erleuchtung einen entscheidenden Schritt näher gekommen zu sein.

Im Maithuna-Ritual kann eine solche emotionale Einschätzung fatale Folgen haben … wenn man zumindest den alten Schriften und den Gurus des traditionelen Tantras Glauben schenkt. Extrem leidenschaftliche Gefühle, wie sie im erotischen Tantra mitunter hervorgerufen werden können, ziehen die Dämonen an wie das Licht die Motten. Um eine Diskussion über die autonome Existenz von Geistern und Dämonen zu vermeiden, möchte ich mich hier auf den Standpunkt zurückziehen, dass das, was traditionell unter “Dämonen” verstanden wird, in der modernen Psychologie die Schattenanteile der Psyche sind. Diese negativen Aspekte gilt es also zu vermeiden.

Das sogenannte “Negative”, also die nicht-integrierten (!) Schattenseiten der Persönlichkeit befinden sich nach traditionell tantrischer Psychologie vornehmlich in den Bereichen des Sexchakras (Svaddhistana Chakra) und des Nabelchakras (Manipura Chakra). Dies ist der eigentliche Grund hinter der märchenhaft anmutenden Überhöhung des Paares in Shiva und Shakti, also in den männlichen und weiblichen Aspekt des Göttlichen.

Die Götter haben nur erhabene Gefühle. Auch der Zorn und die Zerstörungswut Kalis oder der vernichtende Blick Shivas sind erhaben. Sie haben nichts gemein mit der kleinen menschlichen Wut und Zerstörung. Sie haben im Gegenteil eine kosmische Relevanz. Kali tötet und gebiert und erzeugt so den Kreislauf des Seins. Shiva vernichtet das Böse bzw. löst am Ende der Zeiten alle Materie auf. Die göttlichen Gefühle befinden sich jenseits der Stürme in unseren Kaffeetassen.

Daher legt das traditionelle Tantra einen sehr gesteigerten Wert auf Transfiguration (oder Transformation, wie es manchmal im Neo-Tantra genannt wird). Man kennt in den traditionell-tantrischen Schulen – auch ausserhalb des Maithuna-Rituals – viele Anlässe, Methoden und Techniken, bei denen die Transfiguration – also die Veränderung des Bewusstseins in ein göttliches Vorbild – zentral stehen.

So werden zum Beispiel häufig Nyasas durchgeführt, bei denen durch Berührung und den Gebrauch von Mantras der Körper des/der Berührten nach und nach in eine Gottheit verwandelt wird. In der Tradition des Sri Vidyas wird eine der Teilnehmerinnen in langwierigen Ritualen in Devi (die Göttin) verwandelt, um dann allen Anwesenden in einer Trance als Orakel zur Verfügung zu stehen. Die klassischen, indischen Deva-Dasi-Tänzerinnen perfektionierten Zeit ihres Lebens einen Tanz, bei dem sie die Göttin von sich Besitz ergreifen liessen. Der bekannte, rechtshändige Tantriker und Heilige Indiens Ramakrishna lebte viele Monate auf einem Baum, ass nur, was Affen essen, und gab nur affenähnliche Geräusche von sich. Er wollte sein Bewusstsein vollständig in das des Affengottes Hanuman verwandeln. Als er bemerkte, dass ihm ein Schwanz zu wachsen begann, beendete er seine Sadhana (spirituelle Übung) … so wird zumindest erzählt.

Bevor man also ein Maithuna-Ritual zelebriert, sollte man einen möglichst hohen Grad der Verwandlungsfähigkeit erreicht haben. In einem Vereinigungsritual addiert sich die Energie und das Bewusstsein der beiden Partner nicht nur … sie multiplizieren sich. In einem Chakrapuja, bei dem auch noch Partner gewechselt werden, kann man von einem Potenzieren von Energie und Bewusstsein sprechen! Dies gilt im Positiven wie im Negativen. Je besser die Vorbereitung der Teilnehmenden ist, um so höher die Chance auf Erfolg.

Das Maithuna-Ritual hat sich im Tantra nicht aus hedonistischen Gründen entwickelt. Es ging im Tantra nie um reine Luststeigerung … obwohl dies einer der direkten Effekte sein kann. Es ging jedoch schon immer um das Kanalisieren der Energie. Viele Methoden und Techniken geben daher auch keine moralische Richtung vor, wie das beispielsweise im Yoga der Fall ist. Man kann mit dem gleichen, rituellen Ablauf Erleuchtung erlangen, sein Bankkonto auffüllen oder einen Fluch in die Welt schicken. Doch egal wofür man es verwendet, man muss zunächst so viel Energie wie möglich erzeugen ( = Lust) und diese dann möglichst vollständig fokussieren ( = Bewusstsein). Dies bedeutet, dass man sich von dem, was einem in dem Moment am liebsten ist, vollkommen dissoziieren muss. D.h. dass man die Lust auf allerhöchster Ebene unterbricht und sie dann eben nicht in einen Orgasmus münden lässt. Wenn man sein Ego schon hinter sich gelassen hat, ist das kein Problem. Für alle anderen gibt es die Transfiguration.

Nun, gibt es diese Geschichte vom kosmischen Orgasmus. Ich will hier versuchen, ein paar Missverständnisse diesbezüglich aus der Welt zu schaffen. Ich kenne einen tantrischen Meister, der – wenn er morgens aus der Meditation kam – von seiner Frau mit den Worten begrüsst wurde: “Und, warst Du wieder bei Deiner anderen Frau?” Er war Kali-Anhänger und was sie meinte war, dass er in seinem Samadhi mit Kali eine Vereinigung erlebte, die die erotische Vereinigung mit seiner Frau bei weitem übertraf. Findet Samadhi oder Turya, wie es in manchen tantrischen Schulen genannt wird, dann auch noch in einer sexuellen Vereinigung im Kontext von Maithuna statt, dann kann man von einem kosmischen Orgasmus sprechen! Es dauert viele Jahre der Praxis, um dies zu verwirklichen.

Die älteren unter den Lesern dieses Artikels kennen vielleicht den Film “Stalker” von Andrei Tarkowski. In diesem Film zieht eine Gruppe Menschen durch eine Gegend, die sich ständig in ihrer tatsächlichen Geographie verändert. Um sich nicht zu verlaufen, hat die Gruppe einen Führer, der immer ein weisses Stück Laken, in das er einen Stein gewickelt hat, vorauswirft. Dann geht die Gruppe geschlossen zu dem Stoffetzen. Wenn der weisse Stoff nicht mehr sichtbar ist, so weiss man, dass ein Weitergehen zu gefährlich ist. Man wirft einen neuen Stofffetzen in eine andere Richtung.

So ähnlich kann man sich die Wirkungsweise eines tantrischen Rituals vorstellen. Man geht gemeinsam in einen Bereich, der den Persönlichkeiten der Teilnehmenden völlig unbekannt ist. Die verschiedenen rituellen Gesten, Worte und Handlungen haben die Funktion des Stoffetzens. So lange man sich an die sehr rigiden Vorgaben des Rituals hält, ist alles im grünen Bereich. Verlässt man den Pfad, weiss niemand, was passieren wird. Dabei gibt es jedoch dennoch eine gewisse Freiheit: So weit man sein Ego vor der Tür des Ritualraums zurückgelassen hat, in dem Masse kann man sich auch von den rituellen Vorgaben lösen. Anders gesagt: Wenn man das Mantra vergisst, weil man Samadhi erreicht hat, ist das ok. Vergisst man es jedoch, weil man schlecht vorbereitet ist, hat man ein Problem!

Die verschiedenen Elemente des tantrischen Vereinigungsrituals, insbesondere aber die Transfiguration sind für den/die TantrikerIn wie ein kostbares Geschenk. Die alten TantrikerInnen haben Jahrtausende daran gearbeitet, dass auch diejenigen, die noch bei weitem nicht ihr Ego hinter sich gelassen haben, für die Dauer des Rituals ihre Persönlichkeit und ihre persönliche Geschichte vergessen können. In dem Masse, wie dies gelingt, gelingt auch das Ritual. Unser Ego weiss, dass mit dem Betreten des rituellen Raums sein letztes Stündchen geschlagen hat … zumindest für eine gewisse Zeit. Ich habe schon Situationen erlebt, in denen direkt vor der Tür des Ritualraums, kurz vor dem Betreten desselben unglaubliche Streitereien zwischen den TeilnehmerInnen entstanden sind. Meist über völlig belanglose, irrwitzige Dinge. Die Egos bäumten sich noch einmal auf … gleichzeitig sind solche Begebenheiten Tests. Schafft man es nicht, trotzdem den Ritualraum zu betreten und das Ritual zu beginnen, dann hat man den Test nicht bestanden.

Ist man jedoch im Ritual angekommen und beginnt den symbolischen Ablauf, der die Persönlichkeit förmlich zerlegt und durch das Bewusstsein einer Gottheit ersetzt, dann werden plötzlich Dinge möglich, die für den/die TantrikerIn im Alltagsbewusstsein unvorstellbar sind! Dies kann von dem Entdecken zuvor unbekannter Eigenschaften wie Güte, völlig selbstlosem Mitgefühl oder schier grenzenlosem Weitblick bis hin zu spontanem Samadhi reichen. Maithuna ist wie ein Ausblick in eine mögliche Zukunft, wobei das eigene, ungeahnte Potential plötzlich zur Verfügung steht und für kurze Dauer entfaltet wird.

Gleichzeitig wird diese Zukunft auch möglich. Der göttliche Teil, der im Ritual nicht nur berührt sondern auch aktiviert wurde, wirkt aus dem Unterbewusstsein heraus auf unser profanes Leben. Die Gottheit schält sich langsam heraus und verwirklicht sich in uns. Je mehr Raum wir dem geben und je öfter wir Maithuna praktizieren, um so intensiver ist diese Wirkung. Maithuna ist wie ein Urlaub von uns selbst, aus welchem wir die Götter als blinde Passagiere in unseren Alltag mitbringen.

Johannes Ganesh Bönig
zuerst erschienen am 23. Juli 2018 auf Tantra-Netz
https://www.tantranetz.de/tag/maithuna

Das spirituelle Herz

Der Schlüssel zur Selbst-Verwirklichung

In allen Kulturen steht das Herz für Güte, Mitgefühl, Liebe und andere durchweg positive Gefühlsäusserungen. Sogar in unserer heutigen, stark durch Wissenschaft und Technik bestimmten Welt beschreibt der Begriff „Herzensbildung“ einen hohen Grad an menschlicher Entwicklung und Weisheit.

In so gut wie allen spirituellen Disziplinen spielt daher auch das Herz eine übergeordnete Rolle.

Auch im tantrischen Yoga, der dafür bekannt ist, vor allem die sexuelle Energie und die Willenskraft nutzbar zu machen, ist das Herz sozusagen das ethische Barometer, mit dem man den Yoga im täglichen Leben erdet.

Es gibt verschiedene Aspekte, unter denen man im Tantra-Yoga die Ebene des Herzens verstehen kann. Zunächst einmal ist das Herz Anahata-Chakra und als solches quasi die Steuerzentrale der anderen Chakras. „Das spirituelle Herz“ weiterlesen

Kurze Überlegungen zur Geschichte des Hindu-Tantras

Indien ist ein riesiges Land und sicherlich eine der ältesten Zivilisationen dieses Planeten. Jeder Teil Indiens hat seine eigene Geschichte und vieles davon ging im Nebel äußerer und innerer Machtkämpfe über die Jahrhunderte und Jahrtausende verloren. Dies ist der Grund, warum – was auch immer eine Person postuliert – man sicherlich jemanden finden wird, der das Gegenteil behauptet.

Dennoch – in Bezug auf Tantra gibt es einen gewissen Blick auf die Geschichte der indischen und vor allem der hinduistischen Spiritualität, die man ohne Widerspruch zu den Mainstream-Überzeugungen beibehalten kann, indem man eben diese verwendet, um bestimmte Phänomene zu erklären, die es schon sehr lange Zeit gibt und die auch heutzutage noch auftreten. Ich spreche von dem ewigen Streit zwischen der mehr oder weniger „offiziellen“ brahmanischen Theologie und der(den) tantrischen Lehre(n). Um den vollen Umfang dessen zu verstehen, worüber ich rede, müssen wir versuchen, die theologische Grundlage des Kerns der Hindu-Religion zu erklären: Das Kasten-System und seine Wurzeln in der Idee der Reinkarnation, die sich in die Lehren von Karma und Dharma verzweigt.

 

Das brahmanische Dilemma

Die brahmanische Erklärung für die Existenz des Kasten-Systems war seit jeher, dass durch die Reinkarnation und die Verarbeitung sowie die Auflösung des Karmas die Seele durch die verschiedenen Kasten aufsteigen und schließlich Erleuchtung und Befreiung als verwirklichter Brahmane erlangen würde. Das Werkzeug, mit welchem dies erreicht werden soll, ist grundsätzlich nur eine einzige Sache: Reinigung. Sobald die Seele vollständig von den verschiedenen Karmas gereinigt ist, wird sie ihren natürlichen Zustand erreichen, der Erleuchtung ist. Sie wird frei vom Samsara, indem sie Handlungen, die neues Karma produzieren würden, nicht ausführt. So gesehen ist der Weg zur Verwirklichung des Selbst (Jivatman) die natürliche Evolution, die letztendlich jedes (menschliche) Wesen gehen muss. Der religiöse Brahmane sieht sich selbst als die höchstmögliche, materielle Emanation dieses Weges. Der nächste Schritt wäre die transzendierte Seele, die quasi zu Hause (in Atman) angekommen ist, um dann nie wieder geboren zu werden.

Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es das Gesetz des Dharma. Dharma ist im Grunde eine Reihe von kollektiven Regeln, die die Seelen durch die verschiedenen Inkarnationen führen, um am Ende Befreiung zu erreichen. Diese Regeln variieren natürlich je nach dem, in welchen Umgebungen (d. h. Kasten) die Seele inkarniert ist. Im Folgenden möchte ich ein Beispiel geben: Die einzige Praxis des spirituellen Brahmanen besteht darin, Verunreinigungen durch Kontakt mit unreinen Objekten oder Personen zu vermeiden. Je vollständiger diese Vermeidung ist, desto schneller wird seine Entwicklung fortschreiten. Aber der Brahmane ist in die Gesellschaft integriert! Dadurch ist er von anderen Menschen, die sich an seiner statt verunreinigen, abhängig! Der Dharma des Brahmanen ist die „Erhaltung der Reinheit“. Deshalb ist der Dharma der Mitglieder anderer (niederer) Kasten der Kontakt zu ebendiesen Verunreinigungen … zum Beispiel wenn es Krieg gibt. Für den Brahmanen wäre es ein Akt der Unreinheit, ein Soldat zu sein und den Feind zu töten. Darum gab es eine Kriegerkaste, deren Dharma es war, dem Feind im Krieg zu begegnen. Natürlich ist der Tötungsakt auch für den Krieger eine unreine Sache. Aber da er den Brahmanen nicht nur vor dem Feind selbst, sondern auch vor der unreinen Handlung des Dahinschlachtens anderer Menschen schützt, kann der Krieger einen Zustand erreichen, in dem er als Brahmane wiedergeboren werden kann und zur Befreiung aufsteigt. All dies hat natürlich mit der richtigen Art und Weise, den Weg des Kriegers zu gehen, zu tun. Die Bhagadvad Gita erklärt das sehr ausführlich.

Der wichtigste Punkt in der ganzen Lehre ist, dass die Seele viele Stadien durchlaufen muss, um eine karmische Reinheit zu erreichen, die es ihr ermöglicht, das Rad von Tod und Wiedergeburt hinter sich zu lassen, um wieder Einheit mit dem Göttlichen zu erlangen.

Das sagt zumindest der Brahmane …

 

Abkürzungen zur Befreiung

Wenn man es genau betrachtet, ist der Hinduismus eine ziemlich rigide Religion … obwohl er ein Synkretismus vieler lokaler Kulte und daher in seinem Kern und seiner Herkunft sehr tolerant ist. Um alle diese Völker aus verschiedenen Gegenden und von den verschiedensten sozialen Hintergründen und Umgebungen bei der Stange zu halten, benötigte man ein Sicherheitsventil. Und hier kommen die Yogas, die Sadhus, die Swamis und die Babas aus der Vielfalt der Bruderschaften (Sampradayas) ins Spiel. Diese Kulte boten Abkürzungen durch den Samsara an und gaben den Daliths und den unteren Kasten eine gewisse Hoffnung: „Ich habe die Wahl … entweder lebe ich noch 10.000 Leben oder ich schliesse mich einer bestimmten Lehre an und verrichte die Arbeit von 100 Inkarnationen in nur einem Leben! Es gibt einen Ausweg! “ So blieb die Verantwortung bei der Person. Natürlich ist das individuelle Denken nicht die Hauptstärke des Hindus weder heutzutage noch in früheren Zeiten … aber es war eine gültige Option, die Herde zu verlassen und einen direkteren Weg zur Befreiung zu finden. Diese spirituellen Schulen ehrten die Brahmanische Lehre. Sie benutzten diese einfach anders. Darum spricht der Brahmane normalerweise nicht gegen Yoga oder Sampradaya (solange sich die Bruderschaft innerhalb der orthodoxen Grenzen des Hinduismus bewegt). Natürlich hat das seinen Preis: Wenn man eine Abkürzung nehmen will, muss man auf die Welt verzichten, die Familie und die meisten Annehmlichkeiten der Gesellschaft. Darüber hinaus hängt alles davon ab, inwieweit man bereit ist, Entbehrung und Buße auf sich zu nehmen. Je mehr man leidet, umso schneller kann man Erleuchtung und Befreiung erreichen. Dies ist natürlich eine schlechte Reklame für einen spirituellen Weg außerhalb des Kasten-Systems, da es bedeutet, dass die schlimmsten Lebensbedingungen immer noch besser sind als die Bitterkeit des spirituellen Weges … ohne Familie, ohne Kinder und ohne persönliche Liebe zusätzlich zu Armut und Tapasia!

Nicht viele Leute sind bereit, dies zu tun. Deshalb haben diese Alternativen die Brahmanische Herrschaft nie gefährdet.

 

Der Schachzug des Tantrikers

 An einem gewissen Punkt wurde all dies in Frage gestellt und das theologische Gebäude des Hinduismus wurde mit dem Erscheinen eines Kults, der als Tantra bekannt ist, stark verunsichert. Wenn wir über Tantra sprechen, dürfen wir nicht an ein homogenes Konstrukt denken. Der Hinduismus selbst hat ja viele Ausprägungen. Sogar aufwändigen Studien und Enzyklopädien ist es bisher nicht gelungen, die Ganzheit des Tantrismus zu erfassen. Es gibt jedoch zwei Merkmale, die Tantra im Lichte der Brahmanischen Gedankengänge als eine mehr oder weniger revolutionäre Philosophie erscheinen lassen.

HausherrInnen: Irgendwann begannen sich die intelligenteren und spirituell interessierten Hindus, die nicht mit einer Geburt in einer höheren Kaste ausgestattet waren, zu fragen, ob es wirklich notwendig sei, außerhalb der Gesellschaft zu leben, um nach Erleuchtung zu streben. Gab es wirklich keine Alternative zu einem Weg, der schneller ist als das schier endlose Leben und Sterben? Was wäre, wenn es noch eine andere Art und Weise mit Karma umzugehen gäbe als die von den Brahmanen beschriebene? Könnte man nicht das geistige Wachstum des Individuums durch bestimmte Methoden und Techniken sowie durch den richtigen Blick auf das spezifische Karma des Individuums beschleunigen? Nicht alle Reinigungen sind für alle notwendig, da nicht alle das gleiche Karma haben! Auf der anderen Seite könnten manche Leute viel mehr von einem gewissen „Heilmittel“ brauchen als andere, da sie Karma in sehr eingeschränkten Bereichen.

angesammelt haben können! In diesem Sinne könnte man davon ausgehen, dass das spezifische Karma einer Person eigentlich den individuellen Weg zur Erlösung dieses Menschen in sich trägt! Karma zeigt den Weg zur Befreiung, da es gelöst werden muss. Und da die Karmas von verschiedenen Menschen sehr unterschiedlich sein können … müssen die Wege zur Befreiung auch divergieren! Warum also sollte eine Person weitere 1.000 Leben mit der Herde gehen, wenn das Nirvana am Ende dieses Lebens erlangt werden könnte, solange man sich auf das Verbrennen bzw. das Erfüllen des spezifischen Karmas konzentriert! Und zweitens: Wenn das Karma von zwei Individuen so verschieden ist, dass auch ihre spirituellen Pfade sehr unterschiedlich sind, muss es dann nicht auch einen großen Unterschied im Dharma geben, nach welchen sie leben sollten ?! Eine Sache, die für eine Person unrein ist … könnte für jemand anderen ein Sakrament sein! Alles hängt vom persönlichen Karma ab. Das bedeutet, dass Dharma auch persönlich sein muss! Natürlich gibt es bestimmte Grundregeln. Mord zum Beispiel wird niemals ein reiner Akt sein. Aber das Sammeln von Müll ist nicht notwendiger Weise unrein. Dies sieht man vor allem in der heutigen Zeit! Müll sammeln ist das Reinigendste, das man momentan überhaupt nur tun kann! Diese Art zu Denken brachte die Idee der/s „HausherrIn“ hervor. Das bedeutet, dass jeder, der einen Job und eine Familie hat, Mann oder Frau, egal von welcher Kaste, einen spirituellen Weg gehen kann, in dem ein „normales“ Familien- und Berufsleben einbezogen ist. Sich dem persönlichen Karma auf die richtige Weise anzunähern, kann für die betreffende Person (und NUR für diese Person!) die exakte Wegbeschreibung zur Erleuchtung und Befreiung sein.

Man steigt durch das, wodurch man fällt: Die Brahmanische Lehre hat einen ganz bestimmtes Regelsystem von Ge- und Verboten. Es gibt viele Dinge, die beachtet werden müssen, um nicht nur ein reines sondern auch eine reinigendes Leben zu führen. Dies beginnt mit dem Verbot, Fleisch und Fisch zu essen. Es regelt den Umgang zwischen menstruierenden Frauen und Männern. Es bestimmt die Umstände, unter denen Geschlechtsverkehr stattfinden kann. Es verbietet die Verwendung von Alkohol und Drogen … etc.

Die Mütter und Väter des Tantras fragten sich, warum diese Dinge für den Brahmanen so gefährlich waren. Und sie kamen zu einer sehr erleuchteten Schlussfolgerung: Alle diese Dinge sind für die Reinigung des Brahmanen gefährlich, weil sie riesige (!) Energiemengen enthalten, die sich unvorteilhaft auswirken können. Aber was wäre, wenn diese Energie genutzt werden könnte, um die spirituelle Entwicklung des Einzelnen fördern? Wie ein Seemann, der gegen den Wind kreuzt, könnte man auf dem Ozean der Energie aktiv segeln, anstatt nur dann in See zu stechen, wenn der Wind günstig steht.

An dem Konzept von Brahmacharya (Sexlosigkeit oder Zölibat) kann man dieses Prinzip gut erklären. Die Sexualität ist in der Brahmanischen Philosophie etwas, das uns in die Dichtheit des irdischen Daseins herunterzieht. Sie ist grundsätzlich von den Instinkten bestimmt und gehört zu unserer tierischen Natur. Deshalb muss sie auf die Fortpflanzung beschränkt werden. Die Yogis und Swamis und alle anderen, die versuchen, eine spirituelle Abkürzung zu gehen, benutzen daher das Zölibat als eines ihrer Hauptwerkzeuge. Das bedeutet, dass sie die Sexualität völlig aus ihrem Leben verbannen, da sie diese nicht nur für unrein halten, sondern auch den Verlust der Energie, den sie mit sich bringt, fürchten. Der Tantriker sieht sich die Sache genauer an. Er sagt: „Was genau ist es, was uns dazu bringt, beim Sexualakt Energie zu verlieren? Es kann nicht die Aktivität an und für sich sein, weil wir alle davon abhängen, nein, sie muss ja geradezu göttlich sein, da sie neues Leben hervorbringt! Aber wenn wir diese enormen, lebensspendenden Energien ausschliesslich für unser Vergnügen benutzen … dann verschwenden wir natürlich enorme Mengen von Energie! “ Hieraus schlossen die Tantriker, dass es nicht der Geschlechtsverkehr sein kann, der unsere Energiereserven entleert, sondern die Ejakulation, die Menstruation und der Eisprung. Tantra lehrt uns als einer der ersten Schritte, wie man diese Dinge kontrolliert. Wenn zum Beispiel ein Mann seine Ejakulation kontrollieren kann, stehen ihm unglaubliche Mengen an sexueller Energie zur Verfügung … so riesig, dass seine Sexualität beginnt, als Kraftwerk zu funktionieren! Dies wird ihm nicht die Energie rauben … im Gegenteil: Dieser Vorgang wird seinen Energiepegel zu ungeahnten Höhen aufschwingen!

Die Tantriker wissen, dass es nicht der Akt selbst ist, der eine Sache nützlich und heilsam macht, sondern die innere Haltung und die Art und Weise, wie er durchgeführt wird.

 

Schlussfolgerung

Bedeutet das, dass der Brahmane völlig falsch liegt? Nein, überhaupt nicht! Der Weg des Brahmanen ist gültig. Er dauert lediglich sehr lange. Gleichzeitig könnte man ihn im ethischen Licht der Neuzeit als legitimierten Rassismus betrachten. Auch habe ich bisher nicht über die Rolle der Brahmanen-Frauen gesprochen, die nur einen bestimmten (niedrigeren) Zustand der Verwirklichung an der Seite ihrer Ehemänner erreichen können – durch Bhakti (Hingabe).

Die „Methoden der Abkürzung“ geben allen sozialen Schichten eine Chance. Sie funktionieren sehr demokratisch. Aber … sie haben auch meist eine rein patriarchalische Grundhaltung. Man findet in ihnen nur sehr selten Frauen.

Der tantrische Weg steht völlig jenseits der Vormachtstellungen von Kaste und Geschlecht. Viele der alten Meister waren Frauen. Eigentlich würde eine Frau im tantrischen Sinne einen viel besseren Guru abgeben als ein Mann. Tantra findet seine Methoden immer am Rande oder sogar außerhalb der Gesellschaft. Dort liegt die Energie – verloren und vergessen.

Die Zeiten haben sich sehr gerändert, seit die alten hinduistischen Schriften geschrieben wurden – sowohl die vedischen als auch die tantrischen. Wir leben in Kali Yuga, dem Zeitalter von Kali, der Zerstörerin. Nach dem Hinduismus ist Kali Yuga das Zeitalter des Tantra. Die brahmanische Lehre ist … sozusagen … überholt. Aber was denkt ein Brahmane, der seit Jahrhunderten bewusst nach einem höheren Existenzniveau strebt und nun an der Schwelle zur Realisierung steht? Nun, in Kali Yuga, wenn alles zerbröckelt … sogar sein eigener Weg? Er muss verzweifelt sein. Grundsätzlich kann heutzutage jeder Narr Befreiung erreichen! Und es spielt keine Rolle mehr, aus welcher Kaste man stammt, ob man männlich oder weiblich ist, ob man im Osten oder Westen lebt … man muss nur eine spirituelle Praxis ausüben. Darüber hinaus ist göttliche Gnade reichlich vorhanden. Ich beneide den Brahmanen nicht. Ich fühle mit ihm mit. Es ist nicht die Zeit des Brahmanen. Es ist die Zeit des Tantrikers.

Natürlich muss sich auch der Tantriker ändern. Er suchte nach Energie im Saum und den Falten des brahmanischen Systems. Jetzt verschwindet dieses System. Vielleicht lebt der Tantriker jetzt im Westen unter den Christen und Atheisten! Er muss auf andere Weise nach Energie suchen. Die (westlichen) Gesellschaften sind permissiver denn je. So könnte der Tantriker ein Vegetarier oder ein Veganer sein, er würde vielleicht gar keine Drogen nehmen und keinen Alkohol trinken, er würde nach einer ethischen und moralischen Plattform suchen, um freie Liebe zu leben, er wäre vielleicht Umweltschützer, Feminist, Anti-Konsument oder Freiheitskämpfer … und er wäre natürlich – mehr denn je – eine SIE.

Johannes Bönig Berlin, im Mai 2017

Der Weg der Erfüllung

Zunächst einige theoretische Prämissen: In spiritueller Hinsicht bezieht sich Erfüllung auf das Karma. Erfüllung ist die Verwirklichung karmischer Wirkungen (aus naher oder ferner Vergangenheit) in der Gegenwart und Zukunft, ohne jedoch durch die damit verbundenen Handlungen und Taten neues Karma zu schaffen. Als solches ist der Weg der Erfüllung dem Bhakti Yoga und Karma Yoga sehr nahe. Erfüllung – also das Erleben von Karma –, ohne den Verzicht auf die Früchte der damit verbundenen Handlungen und Taten, schöpft neues Karma. Letzteres ist in karmisch-spiritueller Hinsicht sehr unökonomisch, da man dadurch das karmische ‚Konto’ nicht abbaut, sondern es höchstens leicht reduziert, wenn es nicht nicht sogar gleich bleibt oder sich vermehrt. Der Weg der Erfüllung ist also ein Weg, der in gewisser Weise nichts mit dem spirituellen Streben nach Erleuchtung zu tun hat und gleichzeitig enormen Einfluss darauf hat – man muss ihn parallel zu seinen spirituellen Übungen realisieren. „Der Weg der Erfüllung“ weiterlesen