In der tantrischen Tradition sagt man, dass ein Mann erst eine Frau werden muss, bevor er Tantriker werden kann. Dies hat nur sehr bedingt mit der heutigen Transgender-Diskussion zu tun. Es bedeutet viel mehr, dass das Weibliche in der Welt die Aufgabe des Werdens hat, also der Kreation des Lebens. Diese enorme Energie, die Leben hervorbringen kann, macht man sich im Tantra zunutze, um sie für (grösstenteils) spirituelle Zwecke einzusetzen. Das Männliche in der Schöpfung hat nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu dieser Energie. Doch das, was dem Männlichen gegeben ist, sollte es auch nutzen!
Psychologisch wie emotional geht es hier um den inneren, gegengeschlechtlichen Komplex. Im folgenden bleibe ich nur bei den männlichen Ausformungen dieser Thematik. Ich befasse mich also mit dem Mannsein und der Wichtigkeit, die innere Frau, respektive die Anima, zu erkennen und in die Psyche zu integrieren. Hierdurch werden Männer emotional tragfähiger, können Gefühle zulassen und aushalten, ohne diese unreflektiert, reaktiv ausagieren zu müssen. Dies macht sie im Umkehrschluss für ihre Umgebung (insbesondere für Frauen) vertrauenswürdiger und attraktiver.
Die innere Frau zeigt sich am deutlichsten in dem Phänomen der Verliebtheit. (Hiermit meine ich nicht „Liebe“!) Im Zustand der Verliebtheit projiziert man seinen inneren weiblichen Teil, zu dem wir meist keinerlei Kontakt haben, auf eine externe Person, meist eine Frau. Hierdurch macht sich die unterdrückte Anima sichtbar, da sie sich nach Akzeptanz und Erkannt-Werden sehnt. Dies geschieht meist zyklisch, wobei die Abstände zwischen diesen Externalisierungen mit zunehmendem Alter länger werden.
Bei dem Prozess der Verliebtheit spielt die Erotik, die sexuelle Begierde meist eine grosse Rolle. Der verliebte Mann hat keinen bewussten Zugang zu seiner inneren Frau. Daher ist der Prozess des Sich-Verliebens ein unbewusster. Es müssen dafür zwei Voraussetzungen erfüllt sein:
Zum ersten entsteht durch das Ignorieren dieses gegengeschlechtlichen Anteils ein innerer Druck, der die Person zwingt, irgendwie darauf zu reagieren. Das Weibliche will gesehen werden – generell, nicht nur in Bezug auf die Anima. Etwas in uns will erkannt werden. Man ist also auf eine gewisse Weise „reif“, um der inneren Frau zu begegnen.
Zum zweiten: Etwas im Gegenüber – also bei der Frau, in die man sich verliebt – muss mit der eigenen inneren Frau mitschwingen. In manchen Fällen – wenn auch sehr selten – ist dies am Ende genug, dass wirkliche Liebe entstehen kann.
Wenn wir uns verlieben, dann sind wir auf einer unbewussten Suche nach uns selbst. Wir sehnen uns nach Kontakt mit dem Teil unserer Psyche, den wir ständig sträflich vernachlässigen. Meist gibt es aber auch Gründe, aus denen man der inneren Frau lieber nicht begegnen will. Die Anima unterteilt sich in einen Licht- und einen Schattenanteil. Der helle Teil ist oft sehr überhöht, sodass er fast nicht von einer realen Frau erreicht werden kann. Daher rührt die Enttäuschung, die man fühlt, wenn man sich wieder „ent“liebt. Der Schatten ist schwieriger. Er macht uns Angst, erfüllt uns oft mit Scham und raubt uns den Mut, uns ihr zu stellen. Ohne hier zu tief in Psychologisches eintauchen zu wollen, kann man davon ausgehen, dass die Bildung der Anima fast immer mit der eigenen Mutter und mit der Art unserer Beziehung zu ihr zusammenhängt. Oft spielen hierbei auch (meist ältere) Schwestern, Nachbarinnen oder andere weibliche Familienmitglieder aus der Kindheit eine Rolle.
Im Tantra stellt sich der Mann diesen nicht integrierten, weiblichen Anteilen. Die tantrische Mythologie ist voller Geschichten vom Kampf der Helden oder Gottheiten mit weiblichen Dämonen. Je mehr diese dann „getötet“ werden umso weniger erfolgreich ist der Protagonist. Begegnet er jedoch der Weiblichkeit mit Verehrung, dann erfährt er die Gnade höherer Ebenen der Bewusstheit.
Die Geschichte von Hanumans Heirat bzw. seiner Verlobung mit der Tochter der Sonne, deren Glanz jeden Mann blenden würde, ist en typisches Beispiel der Integration des Weiblichen in die eigene Persönlichkeit. Hanumans Guru war der Sonnengott, Surya Dev. Am Ende der Lehrzeit gibt der Schüler seinem Lehrer traditionell eine Bezahlung.
Hanuman fragte am Ende seiner Lehrzeit also Surya Dev: „Surya, jetzt, wo meine Ausbildung beendet ist, muss ich Dir Guru Dakshina anbieten. Was kann ich dir geben?“ Die Sonne sagte: „Es hat gereicht, dir beim Lernen zuzusehen.“ Hanuman sagte: „Nein, das genügt nicht. Ich muss dir etwas bezahlen.“ Surya überlegte und entschied sich dann für eine sehr interessante Lösung, mit der Hanuman ihm dienen sollte. Wie fast alle hinduistischen Gottheiten ist auch Surya verheiratet, weil im Hinduismus die Götter als männlich-weibliche Paare agieren, als Shiva-Bewusstsein und Shakti-Energie. Surya war jedoch für seine Frau zu hell. Sie konnte Ihren Ehemann nicht einmal ansehen, weil er ja die Sonne ist. Sie hatte ihn seit Jahrhunderten gebeten, sein Licht auszuschalten, damit sie besser mit ihm umgehen konnte. Die Götter waren sich also einig, dass sie Surya ein wenig Leuchtkraft wegnehmen sollten. Als sie einen Teil des Strahlens von der Sonne abzogen, entstand daraus eine sehr schöne Frau, Suvarchala, die Tochter der Sonne. Doch auch sie hatte das Problem, dass niemand ihrer Helligkeit begegnen konnte, so intensiv war diese. Surya konnte also keinen geeigneten Mann für sie finden; keinen ausser Hanuman, der ja als Schüler der Sonne mit diesem hellen Glanz umgehen kann. So sagte Surya zu Hanuman: „Nimm meine Tochter als deine Frau.“ Mit anderen Worten: „Nimm mein Licht zu deiner Ehepartnerin.“ Hanuman entgegnete: „Wie kann ich eine Frau nehmen? Ich wurde mit dem Lendenschurz eines Brahmachari (ein Mensch, der im Zölibat lebt) geboren und muss meine Keuschheit bewahren, ein Leben in sexueller Reinheit führen.“ Surya antwortete: „Du kannst sie heiraten, weil du den Lehren folgen wirst, die ich dir gegeben habe. Eine solche Ehe wird deine Keuschheit nicht brechen.“
In dieser Geschichte gibt es ein paar sehr interessante Punkte:
Zunächst sind Suryas Worte „Nimm meine Tochter als Deine Frau“ so zu verstehen, dass er fordert, Hanuman solle diese Form extrem mächtiger Weiblichkeit in seine Persönlichkeit integrieren. Der Guru ist hier ein Synonym für das höhere Selbst, der Schüler ist die Persönlichkeit und die Tochter des Lehrers ist die Anima. In diesem Fall sind Schattenseite und Lichtseite identisch. Der Schatten Suvarchalas ist quasi ihre Eigenschaft, alle mit ihrer Helligkeit zu blenden. Ihre Lichtseite ist die Erkenntnis schlechthin, die sie als das Strahlen der Sonne verkörpert.
„Erkenntnis ist das Strahlen der Sonne des Bewusstseins.“
Die Erblindung, die das Blenden durch die Helligkeit verursacht, wird also umgangen, indem das Strahlen integriert wird. Dadurch entsteht verinnerlichte Erkenntnis, eine Frucht der Sonne des Bewusstseins.
Die Aussage „Du kannst Suvarchala heiraten, weil du den Lehren folgen wirst, die ich dir gegeben habe. Eine solche Ehe wird deine Keuschheit nicht brechen.“ ist ein Hinweis auf das, was man tantrisches Brahmachaya nennt: das Zurückhalten des Spermas beim Sex. Wer dies beherrscht bleibt Brahmachari und hat gleichzeitig jede Freiheit.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf den Zustand der Verliebtheit zurückkommen. In früheren Zeiten passierte das Menschen nicht so oft wie heute. Dies hat mit dem Phänomen der romantischen Liebe zu tun, auf das ich an anderer Stelle zurückkommen werde. Wenn sich jedoch jemand verliebte, dann wurde dies noch im Mittelalter vom Arzt als Krankheit behandelt! Es ist also kein gesunder Prozess, sich zu verlieben! Darüber hinaus ist Verliebtheit eine Art des emotionalen Missbrauchs. Man hilft jemandem anderen etwas über, was nichts mit dieser Person zu tun hat. So lange dieser Zustand auf Gegenseitigkeit beruht, ist das auch irgendwie „ok. Doch alle kennen das unangenehme Gefühl, wenn sich jemand in uns verliebt, wir dies aber nicht erwidern können. Man hat dann emotionalen Zugang zu den intimsten Gefühlen des verliebten Menschen, ohne sich jedoch hierfür entschieden zu haben. Man ist irgendwie Teil einer Veranstaltung, der man nicht zugestimmt hat.
Ein im tantrischen Sinne emotional erwachsener Mann hat seine innere Frau integriert. Wie schon zuvor gesagt, hat der Mann dadurch mehr mehr Zugriff auf seine Gefühle. Er erlebt eine tiefere Emotionalität. Gleichzeitig hat er gewisser Massen eine grössere Kontrolle über seine Gefühle. Unter Kontrolle ist nicht Verdrängung bzw. Nicht-Fühlen zu verstehen. Im Gegenteil: Die Gefühle werden viel intensiver wahrgenommen, da sie integriert stattfinden. Gleichzeitig hat man einen grösseren Abstand zu diesen. Sie beherrschen uns nicht wie eine von aussen kommende Macht (als welche z.B. Verliebtheit oft wahrgenommen wird), sondern wir nehmen sie als etwas wahr, das aus uns selbst entsteht, dem wir jedoch nicht ausgeliefert sind. Wir identifizieren uns nicht mehr mit unseren Gefühlen, da wir uns als deren Schöpfer erfahren.
„Ich habe Gefühle, aber ich bin nicht meine Gefühle.“
oder
„Gefühle sind die Wellen auf dem Meer der Energie.“